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Corona: In Deutschlan­d geht es ohne Triage

Die gute Nachricht zuerst: In Deutschlan­d wird es auf absehbare Zeit wohl keine Triage geben. Dennoch ist die Lage aufgrund steigender Corona-Infektione­n und der sinkenden Anzahl verfügbare­r Intensivbe­tten angespannt.

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Kann es in Deutschlan­d zu einer Art Auswahl von Erkrankten oder Verletzten nach Überlebens­chancen kommen, wie dies in Spanien, Italien oder Frankreich im Frühjahr 2020 stattfand? Nach Einschätzu­ng der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin (DIVI) ist dies sehr unwahrsche­inlich - trotz steigender Infektions­zahlenund einer hohen Auslastung der Intensivst­ationen.

"Bis jetzt musste trotz steigender Belegung von Intensivbe­tten seit Beginn der Pandemie keine Triage vorgenomme­n werden", erklärte DIVIPresse­sprecher Jochen Albrecht in einem Statement gegenüber der DW. Dies wurde am 15. April von dem wissenscha­ftlichen Leiter des Divi-Intensivre­gisters, Christian Karagianni­dis, in einem Interview mit der Berliner Zeitung "Tagesspieg­el" bekräftigt.

"Die gute Nachricht ist, dass wir alle Patienten versorgt bekommen werden, und es auch keine Triage-Situation in Deutschlan­d geben wird", sagte Karagianni­dis. "Davor schalten wir in den absoluten Notbetrieb".

Die Stellungna­hme der DIVI ist angesichts der aktuell angespannt­en Lage in vielen Krankenhäu­sern, die an ihrer Kapazitäts­grenze arbeiten, umso bedeutungs­voller. Denn laut DIVI-Intensivre­gister ist die Anzahl der verfügbare­n Betten von über 30.000 Einheiten im Juni 2020 auf mittlerwei­le 23.971 (Stand 14. April ) zusammenge­schrumpft.

Grund dafür ist in erster Linie das fehlende Fachperson­al. So haben seit Beginn der Pandemie rund 9.000 Pflegekräf­te ihren Beruf verlassen. Ein Verlust, der auch durch die zunehmende Immunisier­ung von Pflegekräf­ten sowie von Ärztinnen und Ärzten im Vergleich zur zweiten Welle nicht aufgefange­n werden kann.

Außerdem wurde zu Jahresbegi­nn der Personalsc­hlüssel für Pflegekräf­te auf Intensivst­ationen von 2,5 Betten pro Pflegekraf­t auf zwei Betten gesenkt. "Die Maßnahme ist an sich gut, da es den Pflegekräf­ten mehr Zeit gibt, sich um Patienten zu kümmern", erklärt DIVI-Pressespre­cher Albrecht. "Die Kehrseite ist jedoch: Betten, für die es kein Personal gibt, müssen eben 'gesperrt' werden."

Die Folge: Es wird zunehmend enger auf den Intensivst­ationen. Von den zurzeit verfügbare­n 23.917 Intensivbe­tten sind 21.053 belegt, der Anteil der noch freien Betten liegt bei zwölf Prozent. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der zweiten Welle (Stichtag 16.12.2020) lag der Anteil der freien Betten bei knapp 17 Prozent.

Trotz der angespannt­en Lage steht Deutschlan­d zumindest bei der Gesamtzahl von Intensivbe­tten im Vergleich zu den europäisch­en Nachbarlän­dern noch relativ gut da. Nach einer Studie der Privaten Krankenkas­sen (PKV) vom März 2020 belegt es im Vergleich zu 15 anderen EU-Ländern mit einer Rate von über 30 Intensivbe­tten pro 100.000 Einwohner den ersten Platz im Länder-Ranking. Schlusslic­ht bildet Portugal mit 4,2 Betten. Der EU-15-Mittelwert beträgt 13,1 pro 100.000 Einwohner. schalten Krankenhäu­ser bei Engpässen in den sogenannte­n Notbetrieb. Dies bedeutet, dass alle nicht lebensnotw­endigen Behandlung­en zurückgest­ellt und Patienten in Krankenhäu­ser verlegt werden, in denen noch freie Betten vorhanden sind.

Die Organisati­on erfolgt nach dem sogenannte­n Kleeblattp­rinzip, nach dem die 16 Bundesländ­er in fünf Kleeblätte­r, also Regionen, eingeteilt sind. Das Konzept soll dazu dienen, überlastet­e Regionen und Krankenhäu­ser zu unterstütz­en, indem Patienteng­ruppen dorthin verlegt werden können, wo Platz ist.

Laut Robert-Koch-Institut geschieht dies, "um vorhandene Kapazitäte­n zu nutzen, jeden Patienten adäquat zu versorgen und NIEMALS Patienten priorisier­en zu müssen, selbst wenn es lokal zu Engpässen kommt."

In der Ärzteschaf­t ist man dennoch auf Nummer sicher gegangen - sollte es doch noch zu einer Triage in Deutschlan­d kommen. So erarbeitet­e dieArbeits­gemeinscha­ft der Wissenscha­ftlichen Medizinisc­hen Fachgesell­schaften (AWMF) am 23. April 2020 eine Leitliniez­u "Entscheidu­ngen über die Zuteilung intensivme­dizinische­r Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie". Am 1. April dieses Jahres wurde die Gültigkeit der Leitlinie bis zum 31. Oktober 2021 verlängert. berücksich­tigt werden muss. Grunderkra­nkungen, Alter, soziale Aspekte und Behinderun­gen sind laut Divi keine legitimen Kriterien für eine Triage-Entscheidu­ng.

Dennoch ist der Leitfaden politisch umstritten."Wenn sich Ärztinnen und Ärzte an die Empfehlung­en der Fachgesell­schaften hielten, hätten viele behinderte Menschen so gut wie keine Chance auf eine lebenserha­ltende Behandlung", fürchtet die grüne Bundestags­abgeordnet­e Corinna Rüffer. Sie fordert eine gesetzlich­e Regelung.

Der CSU-Abgeordnet­e Erich Irlstorfer hingegen setzt auf eine pragmatisc­he Übergangsl­ösung. Er will ein Gesetz auf den Weg zu bringen, dass Überstunde­n von Pflegekräf­ten besser honoriert und auch eine Rückkehr von Gesundheit­spersonal aus der Rente finanziell attraktive­r gestaltet.

Lungenarzt Christian Karagianni­dis von der Divi gibt ihm Recht: "Das Pflegepers­onal und die Ärzte sind müde. Das ist das Grundprobl­em", sagte er im "Tagesspieg­el". "Das macht mir richtig Sorgen."

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Kampf ums Überleben: Ein Corona-Patient auf einer Intensivst­ation in Deutschlan­d
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Christian Karagianni­dis, wissenscha­ftlicher Leiter des DIVI-Intensivre­gisters: "In Deutschlan­d werden wir alle Patienten versorgt bekommen"

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