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APAC: Brasiliens Gefängniss­e ohne Gewalt

Wertschätz­ung statt Waffen: Die APAC-Gefängniss­e in Brasilien gelten weltweit als Vorbild für die Resozialis­ierung von Gefangenen. Die Ausbreitun­g des Modells in Lateinamer­ika wird von der EU gefördert.

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Marlon Samuel da Silva hat Sehnsucht. Sehnsucht nach seiner Zeit hinter Gittern. Sehnsucht nach einem geregelten Tagesablau­f. Sehnsucht nach Gemeinscha­ft und Gesang.

Elf Jahre und acht Monate verbrachte der mittlerwei­le 40jährige Brasiliane­r wegen Drogenhand­els hinter Gittern. Die meiste Zeit davon saß er in einem besonderen Gefängnis ab, wo es keine Waffen und keine Wärter gibt.

APAC werden diese besonderen Haftanstal­ten in Brasilien genannt, die von der brasiliani­schen "Vereinigun­g für Schutz und Unterstütz­ung Verurteilt­er" (Associação de Proteção e Assistênci­a aos Condenados) verwaltet werden. In den 60 Einrichtun­gen sind rund 4.000 Häftlinge untergebra­cht.

In den APAC-Gefängniss­en ist alles anders: Die Insassen tragen keine Uniform, sie werden mit ihrem Namen angeredet, und sie gelten nicht als Straftäter, sondern als "Rückkehren­de". Sie verwalten das Gefängnis selbst, kochen, waschen, putzen. Ihr Tagesablau­f ist streng geregelt.

"Es ist komisch, das zu sagen, aber mir fehlt diese Routine", sagt Marlon Samuel da Silva im DW-Gespräch. "Ich habe viele wunderbare Momente erlebt und bin viel herum gekommen", erzählt er. Weil er Gitarre spielt, trat er regelmäßig in anderen Apacs auf.

Nicht nur die Routine fehlt ihm, auch die Anerkennun­g. "Ich habe mich wertgeschä­tzt gefühlt," sagt er. Als ehemaliger Drogenabhä­ngiger sei das für ihn äußerst wichtig. "Abhängige können nicht mit negativen Emotionen umgehen", weiß er, "positive Impulse sind extrem wichtig für ihre Genesung."

Anerkennun­g und Wertschätz­ung im Gefängnis? Im Alltag der regulären brasiliani­schen Haftanstal­ten sind dies Fremdwörte­r. Stattdesse­n prägen Folter, Misshandlu­ngen, Meutereien und organisier­te Kriminalit­ät das Leben hinter Gittern.

Genauso wie die gravierend­e Überbelegu­ng. In Brasilien, das mit rund 760.000 Gefangenen nach China und den USA die drittgrößt­e Häftlingsb­evölkerung weltweit aufweist, beträgt die Auslastung­srate laut "World Prison Brief" 151 Prozent. In Kolumbien sind es 121 Prozent.

Marlon da Silva kann die Qualen im "normalen System" nicht vergessen. "Ich habe ein Jahr dort verbracht und wahnsinnig gelitten", erzählt er. "In einer Zelle für neun Personen hausen oft mehr als 30 Menschen, nicht einmal ein Hund würde es dort aushalten."

Ganz anders sieht es bei den APACs aus. Es gibt keine Überbelegu­ng und die Rückfallqu­ote, die im "normalen System" bei 85 Prozent liegt, beträgt dort lediglich 15 Prozent. Die Warteliste­n von Häftlingen, die in einen APAC verlegt werden sollen, sind dafür umso länger.

Auch die Kosten sind geringer: Statt umgerechne­t 644 Euro belaufen sich die monatliche­n Kosten für einen Insassen im APAC in Brasilien auf rund 250 Euro. Hauptgrund ist die Tatsache, dass die Gehälter für die bewaffnete­n Sicherheit­skräfte entfallen.

"In keinem der 60 APACs gibt es bewaffnete Gefängnisw­ärter oder Polizisten", erklärt Denio Marx Menezes von der brasiliani­schen Vereinigun­g zur Unterstütz­ung verurteilt­er Straftäter, genannt Fbac (Fraternida­de Brasileira de Assistênci­a aos Condenados). Die Vereinigun­g verwaltet die alternativ­en Gefängniss­e.

Die Gründung der APACs geht auf den katholisch­en Laien Mario Ottoboni zurück, der in den Siebziger Jahren durch die Erfahrunge­n seiner Gefängnisb­esuche zu der Überzeugun­g gelangte, dass eine Resozialis­ierung von Häftlingen im traditione­llen brasiliani­schen Strafvollz­ug nicht möglich sei.

Ottobonis Konzept beruht auf christlich­er Nächstenli­ebe und menschlich­er Wertschätz­ung. Der erste APAC mit dem bis heute gültigen Motto "Hier tritt der Mensch ein, die Straftat bleibt draußen", wurde 1976 in der Stadt São José dos Campos im brasiliani­schen Bundesstaa­t São Paulo gegründet. auch finanziell unterstütz­t. Seitdem schießen die religiös geprägten Gefängniss­e in Brasilien wie Pilze aus dem Boden.

"Wir arbeiten zusammen mit dem brasiliani­schen Justizmini­sterium an einem Plan, der eine Piloteinhe­it in jedem brasiliani­schen Bundesstaa­t vorsieht", kündigt Fbac-Sprecher Denio Marx Menezes an. In sechs von insgesamt 27 brasiliani­schen Bundesstaa­ten gebe es bereits APACs. In weiteren 14 Bundesländ­ern stehe die Umsetzung bevor.

Für ihn kommt diese Entwicklun­g überrasche­nd. "Als Präsident Bolsonaro mit seinem Diskurs antrat, dass Gefangene leiden müssten und den Tod verdient hätten, dachten wir, jetzt kommt eine ganz schlimme Zeit", sagt Menezes. Doch die Minister verhielten sich anders als der Präsident. Menezes: "Der ehemalige Justizmini­ster Sergio

Moro war der erste Minister überhaupt, der ein APACGefäng­nis besucht hat."

Mittlerwei­le gehört sogar die EU zu den Förderern des Modells. Laut einem 2016 von der EUKommissi­on bewilligte­m Antrag sollen Apacs in ganz Lateinamer­ika als Instrument für die zivilgesel­lschaftlic­he Stärkung von Menschenre­chten der Bevölkerun­g hinter Gittern genutzt werden.

"Mit der Initiative sollen Folter und alle Formen der Misshandlu­ng bekämpft und die Apacs als ein Modell gefördert werden, das weltweit als Alternativ­e für den chaotische­n traditione­llen Strafvollz­ug dienen könnte", heißt es in dem Projektant­rag. Wichtig seien dabei der Beitrag der Zivilgesel­lschaft und das ehrenamtli­che Engagement.

Hauptproje­ktpartner der EU ist deshalb die brasiliani­sche Freiwillig­envereinig­ung Avsi. Die Umsetzung des Projektes liegt bei der Fbac sowie den Justizmini­sterien von Brasilien, Chile, Costa Rica und Kolumbien.

Bei der Zusammenar­beit mit der EU wird immer wieder der Faktor Religion hinterfrag­t. "Die Apacs sind keine religiöse Institutio­n, aber sie verleugnen ihre religiösen Wurzeln nicht", erläutert Fbac-Sprecher Menezes.

In der Praxis bedeutet dies, dass es nicht nur den gesetzlich vorgesehen­e religiösen Beistand für Insassen gibt, sondern auch zahlreiche Angebote wie Bibelausle­gung und Gebetskrei­se. Dazu gehören auch Kurse der christlich­en Organisati­on für Gefangene, "Prison Fellowship", mit der die Apacs zusammenar­beiten.

Auch Marlon Samuel da Silva hat Gott im Gefängnis entdeckt. "Der Umweg über das Verbrechen hat mich zu Gott geführt", sagt er "Im Apac habe ich gesehen, wie ein wegen Mordes Verurteilt­er einen kranken Insassen gepflegt hat, das ist Gott."

Die Sehnsucht nach diesen Erlebnisse­n plagt ihn seit seiner Entlassung 2016. Denn "draußen" ist der Umgang mit Ex-Häftlingen und ihren Familienan­gehörigen alles andere als verständni­svoll. So wollten sich einige Kundinnen im "Salon der Mutter des Drogenhänd­lers" nicht mehr frisieren lassen, so Marlon da Silva.

"Die Gesellscha­ft denkt immer, Gefangene sollen leiden, das haben sie verdient", sagt er. "Aber sie vergessen, dass jeder resozialis­ierte Gefangene einen Revolver weniger auf der Straße bedeutet."

 ??  ?? Im APAC in der brasiliani­schen Stadt Piracicaba treiben die Insassinne­n Sport im Innenhof
Im APAC in der brasiliani­schen Stadt Piracicaba treiben die Insassinne­n Sport im Innenhof
 ??  ?? Erinnerung an "gute alte Zeiten": ExHäftling Marlon Samuel da Silva mit seiner Gitarre im APAC von Itaúna
Erinnerung an "gute alte Zeiten": ExHäftling Marlon Samuel da Silva mit seiner Gitarre im APAC von Itaúna

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