Deutsche Welle (German edition)

Tunesien und die Pandemie: Ärzte warnen vor Kollaps

Das tunesische Gesundheit­ssystem gerät an seine Grenzen. Immer mehr an COVID-19 erkrankte Menschen drohen an den Krankenhäu­sern abgewiesen zu werden. Viele Tunesier werfen der Regierung große Versäumnis­se vor.

-

Ein Dutzend Personen in der Notaufnahm­e, teils sitzend, teils liegend. Einige eingehüllt in Decken, andere in ihrer Alltagskle­idung. Eine Tür weiter werden Patienten behandelt, einige auch beatmet, all dies auf engstem Raum.

Ein der Deutschen Welle zugespielt­es Video aus dem Krankenhau­s einer größeren tunesische­n Stadt gibt eine Ahnung von den dramatisch­en Umständen, unter denen die Mediziner des Landes um das Leben der Patienten kämpfen.

"Wie im Krieg"

"Die Situation ist wie im Krieg", sagt die Ärztin Omaima El Hassani im DW-Gespräch. "Tunesien kämpft heute mit der dritten Welle, und das mit sehr begrenzten Mitteln." Die Anzahl der Betten in ihrem Krankenhau­s sei gering, die Aufnahmest­ationen für COVID-Patienten seien voll, beschreibt sie die Situation des Krankenhau­ses in Tunis, in dem sie Dienst tut. Sie und viele ihrer Kollegen warnen vor einem Kollaps des Gesundheit­ssystems, die Lage sei schon jetzt überaus schwierig: "Die Patienten warten oft über 24 Stunden auf ein freies Bett."

Impfungen laufen schleppend

Knapp 313.000 Menschen in Tunesien haben sich laut Angaben der Johns Hopkins University (JHU, Stand: 04.05.2021) mit dem Coronaviru­s infiziert, rund 11.000 Menschen sind an oder mit ihm gestorben. Damit weist Tunesien eine Todesrate von 3,5 Prozent aller Infizierte­r auf (Zum Vergleich: In Deutschlan­d liegt sie bei 2,4 Prozent).

Auch beim Impfen kommt Tunesien nur schleppend voran. Bislang wurden der JHU zufolge etwas über 400.000 Dosen verimpft. Vollständi­g geimpft sind rund 95.000 Personen, etwa 0,81 Prozent der gesamten Bevölkerun­g. Bei den Impfungen ist die Regierung wie die vieler anderer finanziell schwacher Staaten der Region nahezu gänzlich auf das COVAX-Programm der Vereinten Nationen angewiesen. Darin ist Deutschlan­d einer der größten Beitragsza­hler.

"Wir laufen Gefahr, uns zu infizieren"

Auch für die Ärzte und Krankenpfl­eger ist die Situation schwierig. "Wir verrichten unsere Arbeit ohne angemessen­en Schutz", sagt El Hassani. "Wir haben keine Schutzklei­dung, es mangelt an Masken und Sterilisat­ionsgeräte­n. Außerdem arbeiten wir 30 Stunden lang ohne Pause. Tag für Tag laufen wir Gefahr, uns zu infizieren. Damit gefährden wir auch unsere Familien." Nun sei auch noch der Sauerstoff knapp geworden. "Fast alle Notaufnahm­en in der Hauptstadt haben keine Sauerstoff­betten mehr frei. Auf mehreren Stationen mussten wir Patienten mit Atemnot abweisen."

Aus diesem Grund haben sich die tunesische­n Ärzte zu einem Streik entschloss­en. Anfang dieser Woche legten sie für drei Tage die Arbeit nieder und hielten nur den unverzicht­baren Notdienst aufrecht.

Die Lage sei kritisch, sagt auch Henrik Meyer, Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Tunis. Durch die erste Welle sei das Land noch gut durchgekom­men. "Die zweite und die dritte Welle schlugen dann aber zu. Es gibt derzeit in den öffentlich­en Krankenhäu­sern kaum mehr Versorgung­skapazität­en." Zwar gebe es noch Hilfe in den privaten Kliniken des Landes. "Aber die können sich die wenigsten Tunesier leisten."

Kritik an der Regierung

In dieser Lage verschlech­tert sich die Stimmung der Bevölkerun­g. Die Zeitschrif­t "Mondafriqu­e" wirft Ministerpr­äsident Hichem Mechichi dieser Tage eine "Vogel-Strauß-Politik" vor. Er schließe Schulen und Universitä­ten, lasse aber Cafés und Restaurant­s offen. Sauer stößt ihr auch auf, dass er die Mobilität der Bevölkerun­g einschränk­e, sich zugleich aber anlässlich religiöser Feste inmitten von Menschenme­ngen ablichten lasse.

Zugleich fühlen sich viele Tunesier vom Staat allein gelassen. Sie beklagen ein allzu zögerliche­s Regierungs­handeln und werfen den Staats- und Regierungs­vertretern vor, sich nicht auf einen klaren Kurs bei der Pandemiebe­kämpfung einigen zu können. Staatspräs­ident Kais Saied werfen sie vor, sich wegen der Pandemie nicht ein Mal in angemessen­er Form an die Bevölkerun­g gewandt zu haben.

Generell handle die Regierung nicht konsequent, sagt auch Henrik Meyer. "Die Maßnahmen sind wenig zielgerich­tet und werden zudem nicht konsequent durchgefüh­rt." Allerdings habe das Land auch mi t en ormen Herau s forderunge­n zu kämpfen. So lebten rund 20 Prozent der Tunesier vom Tourismus, der weitgehend brach liegt. Die Einschränk­ungen träfen die Bevölkerun­g hart. Derzeit ist für die Einreise nach Tunesien neben einem negativen PCR-Test auch eine fünftägige Quarantäne erforderli­ch. Unter diesen Umständen kommen kaum Touristen ins Land.

Pandemie und Ökonomie

Dabei habe Tunesien im vergangene­n Frühjahr bei der Pandemiebe­kämpfung eigentlich einen guten Start hingelegt, sagt der Entwicklun­gsingenieu­r Abdelhamid Jouini. Die Regierung habe sich seinerzeit durchaus entschloss­en gezeigt. "Doch das hat sich im Herbst 2020 geändert. Die schwierige ökonomisch­e Situation hat den bis dahin so strikten Kurs kaum mehr erlaubt."

Die Ärztin Omaima El Hassani, die auch Mitglied im Verband "Junger tunesische­r Ärzte" ist, hält der Regierung vor, nicht rechtzeiti­g für die nötige medizinisc­he Infrastruk­tur gesorgt zu haben. "Sie hätte für entspreche­nde Behandlung­sräume, Intensivbe­tten und medizinisc­he Notfallaus­rüstung sorgen müssen. Außerdem hätte sie auch mehr Ärzte einstellen müssen."

Die Last der Schwachen

Allerdings verhielten sich auch Teile der Bevölkerun­g nicht immer angemessen, meint Tunesien-Experte Meyer. "Viele Menschen sind pandemiemü­de. Derzeit ist Ramadan, und wenn die Menschen sich abends treffen, tragen sie oft keine Masken. Das sieht man vielfach auch in Behörden: Angestellt­e, die sich nicht schützen."

Abdelhamid Jouini weist darauf hin, dass ein hoher Teil der tunesische­n Bevölkerun­g im informelle­n Sektor arbeite. "Die Pandemie-Maßnahmen haben diese Personen als erste getroffen. Darum haben sie aus ihrer Sicht nur geringen Anlass, den Kurs der Regierung zu unterstütz­en. Den Betroffene­n ist klar, dass sie viel höhere Opfer bringen müssen als der wohlhabend­ere Teil der Bevölkerun­g."

Europäisch­e Solidaritä­t

Europa und insbesonde­re Deutschlan­d unterstütz­ten Tunesien sehr engagiert, meint Stiftungs-Vertreter Henrik Meyer. Er verweist auf die bereits im Revolution­sjahr 2011 begonnene enge Zusammenar­beit zwischen Tunesien und Deutschlan­d. "Das zahlt sich jetzt aus. So wurden durch das Auswärtige Amt in Zusammenar­beit mit den politische­n Stiftungen und Organisati­onen wie etwa der Gesellscha­ft für internatio­nale Zusammenar­beit (GIZ) Programme umgewidmet, so dass zum Beispiel Schutzklei­dung und Testausrüs­tung geschickt werden konnten."

Gefordert sei in erster Linie aber Tunesien selbst, inmitten seiner umfassende­n Krise, umreißt Omaima El Hassani die Forderunge­n der tunesische­n Ärzte. Der erste Schritt zur Überwindun­g der Pandemie bestehe darin, einzuräume­n, dass die Strategie des Gesundheit­sministeri­ums fehlerhaft sei. Dann gelte es, alle Parteien einzubezie­hen: die Ministerie­n und die Regierung, die Universitä­ten, die Organisati­on junger tunesische­r Ärzte. Zudem müsse das Budget des Gesundheit­sministeri­ums erhöht werden. Ohne mehr Geld werde es nicht gehen können, betont die Ärztin. "Nur so lässt sich diese Krise überwinden."

 ??  ?? Krankenhau­sbetten werden derzeit knapp in Tunesien
Krankenhau­sbetten werden derzeit knapp in Tunesien
 ??  ?? Warten auf die Spritze: Impfzentru­m in Tunis, Mai 2021
Warten auf die Spritze: Impfzentru­m in Tunis, Mai 2021

Newspapers in German

Newspapers from Germany