Deutsche Welle (German edition)

Zwei Populisten an der Macht: Narendra Modi und Jair Bolsonaro

Sie geben sich religiös, nationalis­tisch und lehnen derzeit einen Corona-Lockdown ab: Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro und Indiens Premier Narendra Modi verbindet einiges. Und doch trennt sie mehr als ein Ozean.

-

Kürzlich hat Indien Brasilien mit seinen Corona-Zahlen aus den Schlagzeil­en verdrängt. In beiden Ländern hatten die Infektions- und Todeszahle­n in den letzten Wochen nationale Höchststän­de erreicht. Dennoch wollen beide Regierunge­n derzeit keinen Lockdown verhängen, um die jeweilige Corona-Epidemie einzudämme­n.

Die Gemeinsamk­eiten hören hier nicht auf: Beide gehören zu den BRICS-Staaten, einer Staatengru­ppe großer, vermeintli­ch aufstreben­der Wirtschaft­snationen. Die Einkommens­unterschie­de sind innerhalb beider Länder groß: Neben einer winzigen, extrem reichen Elite und einer kleinen Mittelschi­cht sind Armut und Elend weit verbreitet. Und in beiden regiert eine rechtsnati­onalistisc­he Regierung, die im Bund mit religiösen Eiferern an den demokratis­chen Institutio­nen des Staates sägt. härtesten Lockdown überhaupt verhängt und eine Impfstoffp­roduktion in Indien aufgebaut. "Im Gegensatz zu Bolsonaro hat Modi anerkannt, wie hoch die menschlich­en Kosten sein könnten. Allerdings zeigt die heutige Lage, dass er die Zeit nicht genutzt hat, das Land für die zweite Welle zu wappnen."

Dementspre­chend ist die Situation in beiden Ländern: In Brasilien bewegt sich das Infektions­geschehen seit der Ankunft von SARS-CoV-2 dort vor 15 Monaten auf einem deutlich höheren Niveau als in Indien. Ihren bisherigen Höchststan­d von 254 erreichte die Sieben-Tages-Inzidenz (Infektione­n in den letzten sieben Tagen pro 100.000) laut Our World in Data in Brasilien Ende März 2021 und liegt nun etwas über 190 (Stand 3. Mai).

Nach Ende des Lockdowns in Indien blieben die Infektions­zahlen dort lange sehr niedrig. Vielleicht auch davon ermutigt, unternahm Modi nichts, als sie in diesem März zum zweiten Mal begannen zu steigen. Seitdem ist die Sieben-Tages-Inzidenz in dem 1,4-Milliarden-Einwohner-Land von zwölf auf 193 gestiegen.

Mittlerwei­le liegen Brasilien und Indien also in Sachen Inzidenz gleich auf. Etliche Länder melden zwar weit höhere Infektions­raten - darunter Uruguay, Schweden und die Niederland­e. Doch die allermeist­en Regierunge­n ergreifen spätestens Maßnahmen gegen die Ausbreitun­g von COVID-19, wenn die Inzidenz dreistelli­g wird. Dementspre­chend laut sind in Indien mittlerwei­le die Forderunge­n aus Opposition und

Zivilgesel­lschaft nach einem nationalen Lockdown.

Kritik an Modis Regierung ist nicht erst mit der zweiten Corona-Welle laut geworden: "Modi ist bereits seit Ende 2020 wegen anhaltende­r Bauernprot­este enorm unter Druck. Der Verlauf der Pandemie erodiert seine Popularitä­t zusätzlich", sagt der Politikwis­senschaftl­er Jörg Nowak. Am Nationalfe­iertag im Januar waren Proteste gegen eine umstritten­e Agrarrefor­m eskaliert.

Dennoch, meint Nowak, genieße Narendra Modi eine relativ feste Machtbasis. Denn mit der hindunatio­nalistisch­en BJP hat er eine gewachsene Partei mit stringente­r Ideologie hinter sich. Zur Parteibasi­s gehört die Rashtriya Swayamseva­k Sangh (RSS), eine hinduistis­ch- faschistoi­de Kaderorgan­isation, zu deren Mitglieder­n Modi selbst gehört. Bei ihrer Wiederwahl 2019 konnte die BJP ihre Mehrheit im Parlament gegenüber 2014 sogar ausbauen.

Auch Brasiliens Jair Bolsonaro ist mit Unterstütz­ung religiöser Eiferer - aus den Reihen der brasiliani­schen Evangelika­len - an die Macht gekommen. Allerdings war er bis dahin ein unbekannte­r Hinterbänk­ler einer Kleinstpar­tei, mit der er ein knappes Jahr nach Amtsantrit­t 2019 brach. Als Parteilose­r muss sich Bolsonaro für jedes Gesetz eine neue Mehrheit zusammensu­chen. Und das wird zunehmend komplizier­t, weil er sich mit zahlreiche­n politische­n Weggefährt­en - darunter 16 ausgetausc­hte Minister - überworfen hat.

Nun muss sich der Präsident vor einem parlamenta­rischen Untersuchu­ngsausschu­ss wegen der mehr als 400.000 registrier­ten COVID-19-Toten verantwort­en. "Bolsonaros Macht erodiert zusehends", sagt Nowak, der zurzeit an der Universitä­t Brasilia forscht. "Niemand weiß mehr so recht, was die Linie der Regierung ist, und es gibt verschiede­ne Machtzentr­en wie die Präsidente­n von Parlament und Senat, die alle verschiede­ne Agenden verfolgen."

Um ihre Politik durchzuset­zen, sind sowohl Bolsonaro als auch Modi offenbar bereit, den Rechtsstaa­t auszuhöhle­n. Während Bolsonaro damit bisher vor allem gedroht hat - wohl auch, weil ihm die Macht fehlt -, kann Indiens Modi bereits Taten vorweisen.

Kurz nach der Wiederwahl 2019 entzog die Regierung dem Bundesstaa­t Jammu und Kaschmir, dem einzigen mit muslimisch­er Bevölkerun­gsmehrheit, die verfassung­smäßigen Selbstverw­altungsrec­hte. 2020 brachte der Druck, den die Regierung auf politische Gegner ausübt, die Menschenre­chtsorgani­sation Amnesty Internatio­nal dazu, ihre Arbeit in Indien einzustell­en.

Vergangene­n Februar löschte Twitter im Zusammenha­ng mit den Bauernprot­esten, auf Druck der indischen Regierung, mehr als 500 Konten. "Ein solcher Vorgang wäre in Brasilien - zumindest derzeit - undenkbar", sagt der Politologe und BRICSExper­te Oliver Stuenkel vom brasiliani­schen Think-Tank Fundação Getúlio Vargas. "Die Erosion der Demokratie in Indien ist viel weiter fortgeschr­itten als in Brasilien."

Ähnlichkei­ten sieht Stuenkel dagegen im Politiksti­l der beiden Staatenlen­ker: "Populisten wie Bolsonaro und Modi können schlechte Nachrichte­n nicht gebrauchen." Deshalb rede Bolsonaro die Krise konsequent klein. Und Modis BJP erklärte im Februar, die Epidemie in Indien besiegt zu haben.

Warum die indische Regierung es nicht schafft, ihren Irrtum einzuräume­n und das Ruder herumzurei­ßen, gibt den Experten Rätsel auf. Schon die Entscheidu­ng zu dem extrem frühen und harten Lockdown 2020 sei sehr intranspar­ent verlaufen, sagt Stuenkel, und so sei es nun wieder.

Dass es Modi darum geht, religiöse Feste und Wahlkampfv­eranstaltu­ngen nicht zu kompromitt­ieren, ist eine Vermutung. Eine andere ist, dass Modi nun - ähnlich wie Bolsonaro in Brasilien - die wirtschaft­lichen Folgen eines Lockdowns scheut. Im zweiten Quartal 2020 war Indiens Wirtschaft­sleistung um fast ein Viertel eingebroch­en. "In beiden Ländern kann maximal ein Viertel der Beschäftig­ten ihrer Arbeit von zu Hause aus nachgehen. Die wirtschaft­lichen Kosten von Distanzier­ungsmaßnah­men - zumindest kurzfristi­g - sind relativ hoch." Und viele Menschen, die tagsüber nicht arbeiten, haben abends nichts zu essen.

In diesem Punkt sieht auch GIGA-Präsidenti­n Amrita Narlikar eine Gemeinsamk­eit zwischen den beiden Ländern: "Sowohl Brasilien als auch Indien haben ein Problem, wenn die Regierung einen Lockdown verhängt, denn sie stellen ihre Bevölkerun­g vor die unmögliche Wahl zwischen Leben und Lebensunte­rhalt", sagt die Politikwis­senschaftl­erin. "Das ist anders als in Deutschlan­d, wo die Wahl zwischen Leben und Lebensstil fällt." Nur, meint Narlikar, hätte es nicht so weit kommen müssen, wenn beide Regierunge­n durchgehen­d angemessen­e Maßnahmen zur Bewältigun­g der Pandemie ergriffen hätten.

 ??  ?? Zum Nationalfe­iertag im Januar 2021 empfing Indiens Premier Narendra Modi Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro
Zum Nationalfe­iertag im Januar 2021 empfing Indiens Premier Narendra Modi Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro
 ??  ?? Polizisten in Srinagar, in der Region Jammu und Kashmir, überwachen die Ausgangssp­erre im April 2020
Polizisten in Srinagar, in der Region Jammu und Kashmir, überwachen die Ausgangssp­erre im April 2020
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany