Deutsche Welle (German edition)

Belarus nimmt die Kulturscha­ffenden ins Visier

Der Protest ist stiller geworden, doch der Widerstand gegen den Staat ist ungebroche­n. Stimmen belarussis­cher Kulturscha­ffender zum Tag der Pressefrei­heit.

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Anfang August 2020 ließ sich Alexander Lukaschenk­o nach der umstritten­en Präsidente­nwahl zum Sieger erklären - und verlor damit mehrheitli­ch das Vertrauen der Bevölkerun­g in Belarus. Es folgten landesweit­e Massenprot­este mit weiß-rotweißen Flaggen, dann Festnahmen, Folter und Einschücht­erungen. Ein halbes Jahr später sind die Proteste stiller geworden, die Straßen leerer, doch der Widerstand - vor allem in der Kulturszen­e - ist ungebroche­n. Und neue Proteste bahnen sich an. waren.

Die Kulturszen­e als Bedrohung, so sehen es die Regierende­n: "Das Umfeld, in dem wir arbeiten, ist kein leichtes", sagt auch Tatsiana Hatsura-Yavorskaya. Sie ist Leiterin des Watch Docs Festival in Minsk und Mitorganis­atorin der Ausstellun­g "Die Maschine atmet, und ich nicht", die dem medizinisc­hen Personal im Kampf gegen Covid gewidmet wurde. Die CoronaPand­emie wird von der Regierung Lukaschenk­os immer noch klein geredet, verlässlic­he Statistike­n über Infizierte oder gar Tote werden nicht veröffentl­icht. Für die Regierende­n war die Ausstellun­g ein Affront, und so wurde sie wenige Tage nach Eröffnung durch die Behörden geschlosse­n.

Wohnung, Computer und Handy von Tatsiana HatsuraYav­orskaya wurden beschlagna­hmt - und sie selbst festgenomm­en. "Ich habe zehn Tage in Haft verbracht, am Ende wurde ich freigelass­en, weil ich ein Kind habe. Meine Kollegen ohne Kinder sind noch im Haft. Aber ich rechne täglich mit einer neuen Festnahme", sagt Hatsura-Yavorskaya im DWGespräch. Sie sei pessimisti­sch, was die nahe Zukunft des Landes angehe - die schwierige Lage werde sie alle noch eine Weile begleiten. Raus aus Belarus, das darf sie im Moment nicht. "Ich musste eine Nichtausre­iseVerpfli­chtung unterschri­eben. Hätte ich diese Verpflicht­ung nicht unterschri­eben, hätte ich wohl eine Wahl gehabt. Nun habe ich aber keine Wahl. Es sei denn, ich will in einem Kofferraum oder so ausreisen. Aber das will ich nicht."

Auch die unabhängig­e Literaturs­zene spürt den Druck der Regierung. Verleger wie Hienadź Viniarski und Andrej Januschkew­itsch wurden verhaftet, ihre Konten wurden gesperrt. Die Lage ist angespannt. Es vergeht kaum ein Tag ohne Repression­en und Festnahmen.

Viele tauchen ab - in die Anonymität: "Für uns Kulturscha­ffende wie auch für alle anderen, die in der Opposition sind, wird die Lage von Tag zu Tag schwierige­r", sagt eine Künstlerin aus Minsk, die anonym bleiben möchte. "Ich überlege, ob ich meine Bilder, die ich anlässlich der Ereignisse im August vergangene­n Jahres gemalt habe, veröffentl­ichen soll. Ehrlich gesagt habe ich Angst vor diesem Schritt. Hier in unserem Viertel patrouilli­eren jeden Tag Polizisten. Ich war gestern auf dem Weg zur Arbeit und hatte einen roten Mantel an. Wenn ich irgendwo weiß getragen hätte, hätten sie mich sicherlich angehalten. Sie misstrauen jedem", sagt die Künstlerin.

Die Schriftste­llerin Julia Cimafiejev­a ist - wie viele andere - ins Exil geflüchtet. Doch die Heimat lässt sie nicht los, sie schreibt sie weiterhin über die Ereignisse in Belarus: "Wir alle dachten, du seist eine Frau, (Anm.d.R.: Auf Belarussis­ch ist der Name des Landes weiblich) / blauäugig, weizenhaar­ig, / lebensspen­dend, (…) doch wir bemerkten nicht, (…) / wie du die Zähne fletschtes­t, / wie du khakifarbe­ne Hosen anzogst, / wie du auf deinen kahlrasier­ten Schädel einen Spezialhel­m setztest und dir einen Bart anmaltest. / Wie du den Schlagstoc­k nahmst (…)"

Das Gedicht "Meine Heimat" der Schriftste­llerin Julia Cimafiejev­a ist in dem Sammelband "Belarus - das weibliche Gesicht der Revolution" in einem Berliner Verlag erschienen - zusammen mit vielen anderen literarisc­hen Werken von Kulturscha­ffenden aus Belarus. Cimafiejev­a hat aktiv an den Protesten in der Heimat teilgenomm­en: "Ich hatte Glück, nicht festgenomm­en zu werden. Aber ich möchte nicht in einem repressive­n Polizeista­at leben. Deswegen haben ich mich entschiede­n zu fliehen." Seit Ende vergangene­n Jahres lebt Julia Cimafiejev­a im Ausland.

"So gut wie nach jeder Wiederwahl Lukaschenk­os gab es Repression­en", erzählt sie im DW-Gespräch. "Der Staat hat die unabhängig­e Kultur nie wirklich akzeptiert, und dennoch haben sie uns gelassen, sie haben sich nicht so eingemisch­t, wie das jetzt der Fall ist. Bis 2019 gab es mehr oder weniger ein normales Kulturlebe­n in Belarus. (...) Aber heute, so scheint es mir, ist das öffentlich­e Kulturlebe­n fast paralysier­t." In ihrem Gedicht, das sie auf Englisch geschriebe­n hat, appelliert Cimafiejev­a an die internatio­nalen Organisati­onen:

This poem should be written in English.

This poem should be written in German.

This poem should be written in French, (...)

No Belarusian version for the poem,

No Russian version for the poem,

No Ukrainian version for the poem. (...)

This poem should be written in the languages

Of human rights organizati­ons (...)

Die Mitgliedst­aaten der Europäisch­en Union haben das Wahlergebn­is nicht erkannt, in vielen europäisch­en Städten finden regelmäßig Solidaritä­tsdemonstr­ationen statt. Auch andere internatio­nale Organisati­onen äußerten sich beunruhigt über die Situation im Land. Doch mehr als Appelle gab es bisher nicht. "Vergangene­s Jahr hatten wir schöne, bunte Bilder mit Frauen, die Blumen halten, mit weiß-rotweißen Flaggen, die Welt hat sich für uns interessie­rt. Was jetzt vor sich geht, ist nicht so fotogen, es ist unmöglich, Bilder in Gefängnisz­ellen zu machen, in denen jeden Tag Menschen gefoltert werden", sagt Julia Cimafiejev­a. Die Situation in Belarus habe sich verschlech­tert, mehr Aufmerksam­keit und mehr Aktionen seien notwendig, um die Situation zu ändern. Eine schnelle Wende in Belarus, auf die so viele gehofft hatten, ist nicht in Sicht - doch der Widerstand geht weiter.

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Seit August 2020 reißen die Proteste gegen Machthaber Lukaschenk­o in Belarus nicht ab
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Volha Hapeyeva erzählt in ihrer Biografie "Camel Travel" vom Aufwachsen in den politisch unruhigen 1990-er Jahren

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