Deutsche Welle (German edition)

Meinung: Corona-Lockerunge­n sollten an Schulöffnu­ngen geknüpft werden

Geimpfte sollen sich in wenigen Tagen wieder ohne Einschränk­ungen treffen können. Der Wunsch ist verständli­ch. Trotzdem ist das vor allem Kindern und Jugendlich­en gegenüber unfair, meint Kristina Reymann-Schneider.

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Seit über einem Jahr leben wir mit der Pandemie, mal mit mehr, mal mit weniger Einschränk­ungen. Seit Monaten sitzen wir im Lockdown fest. Es ist geregelt, wie viele Menschen wir privat treffen dürfen, wir haben nächtliche Ausgangsbe­schränkung­en und müssen uns vor Friseurbes­uchen testen lassen.

Klar, dass viele Menschen ihre Freiheit zurückwoll­en. Sie pochen auf ihr Grundrecht. Völlig zurecht. Doch ist es nicht unfair, wenn Geimpften und Genesenen Freiheiten gewährt werden, wenn wir noch gar nicht so weit sind, dass alle, die sich impfen lassen wollen, auch eine Impfung erhalten können? Müssen dann nicht ausgerechn­et die Menschen wieder hinten anstehen, die seit Beginn der Krise zurückstec­ken - die Kinder, die Jugendlich­en, die jungen Erwachsene­n? Aktuell sind laut Robert-Koch-Institut gerade mal gut acht Prozent der Bevölkerun­g in Deutschlan­d vollständi­g geimpft. Nicht mal ein Drittel hat bislang die Erstimpfun­g erhalten.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass hier Wahlgesche­nke verteilt werden, vor allem an die Älteren. Denn auffällig ist: Diejenigen, die bei der Bundestags­wahl im September noch nicht wählen dürfen, fallen durchs Raster. Es gibt ja noch nicht mal einen zugelassen­en Impfstoff für Kinder und Jugendlich­e. Während sich Erwachsene also wieder treffen und in größeren Gruppen zusammen sein dürfen, gehen Kitaund Schulkinde­r weiterhin in die Notbetreuu­ng oder werden zuhause unterricht­et. Sie dürfen sich nicht mit ihren Freunden treffen oder im Sportverei­n gemeinsam trainieren. Das ist in etwa so, als würde man sich neben ein kleines Kind setzen, lauter Süßigkeite­n in sich hineinstop­fen und dem Kind nichts von den Leckereien abgeben. Kann man machen, ist aber fies.

Dass Familienmi­nisterin Franziska Giffey und Bildungsmi­nisterin Anja Karliczek nun das Recht auf Ganztagsbe­treuung für Grundschul­kinder durchsetze­n wollen, ist die neueste Pointe in der Bildungspo­litik. Wie wär's stattdesse­n mit einer Garantie, dass die Kinder auch in Krisenzeit­en jeden Tag in die Schule kommen können und dort unterricht­et werden?

Kinder und Jugendlich­e leiden unter der Pandemie besonders, trotzdem werden sie von der Politik kaum berücksich­tigt. Viele fühlen sich einer aktuellen Studie der Bertelsman­n-Stiftung zufolge teilweise oder dauerhaft einsam und zum Teil psychisch belastet. Hinzu kommen Zukunftsän­gste. Mehr als die Hälfte der Befragten fühle sich von der Politik nicht gehört, so ein weiteres Ergebnis der Erhebung.

Bei allem Verständni­s dafür, dass Freiheitsr­echte Grundrecht­e sind und selbstvers­tändlich dringend wieder gewährt werden müssen: Wir sollten nicht vergessen, dass es auch ein Recht auf Bildung gibt - das hierzuland­e leider schon viel zu lange vern a c h l ä s s i g t w u rd e . Laut Schätzunge­n ist im CoronaJahr jedes vierte Schulkind beim Lernen nicht mehr mitgekomme­n. Zugleich ist Schule viel mehr, als nur eine Lernfabrik, der Kindergart­en mehr als nur eine Verwahrste­lle für kleine Menschen. Kinder und Jugendlich­e treffen dort ihre Freunde, lernen dort, für sich einzustehe­n und für andere da zu sein und entwickeln ihre Persönlich­keit weiter.

Warum nicht die Lockerunge­n erst dann wirksam werden lassen, wenn Schulen und Kitas wieder im Regelbetri­eb sind? Das Argument - das kann ja noch ewig dauern - könnte für die Politik ein Ansporn sein, alles daran zu setzen, Schulen und Kitas schnellstm­öglich wieder für alle zu öffnen und damit die CoronaPand­emie für Kinder und Jugendlich­e erträglich­er zu machen. Es wäre an der Zeit.

 ??  ?? Lernen zu Hause ohne Lehrer und Mitschüler wurde über Monate zum Standard in der Pandemie
Lernen zu Hause ohne Lehrer und Mitschüler wurde über Monate zum Standard in der Pandemie
 ??  ?? Aktuell haben gut acht Prozent der Deutschen einen vollständi­gen Impfschutz
Aktuell haben gut acht Prozent der Deutschen einen vollständi­gen Impfschutz

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