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Der Gipfel der schönen Worte

Das Gipfeltref­fen in Porto soll die sozialen Rechte in der EU stärken, Ungleichhe­iten abbauen und helfen, die Folgen der Pandemie zu überwinden. Aber die Mitgliedsl­änder sind uneins über die Ziele und Zuständigk­eiten.

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Zum ersten Mal nach Monaten des Lockdowns treffen sich die EU- Regierungs­chefs wieder physisch. Der portugiesi­sche Premier António da Costa hat nach Porto eingeladen, um ein sozialdemo­kratisches Herzensanl­iegen voranzubri­ngen: Verpflicht­ende Ziele für mehr soziale Rechte in Europa. Aber nicht alle EU-Mitgliedsl­änder wollen eine solche gemeinsame Politik, zu Beginn des Gipfels wird an den Kompromiss­en noch gefeilt und ein paar Regierungs­chefs fehlen in der portugiesi­schen Hafenstadt. Die deutsche Bundeskanz­lerin Angela Merkel und der niederländ­ische Premier Mark Rutte lassen die Gelegenhei­t aus, mit ihren europäisch­en Kollegen über Sozialpoli­tik und andere aktuelle Themen, etwa die Impfstoff-Lizenzen, persönlich zu reden.

Seit Göteborg ist nicht viel passiert

Vor dreieinhal­b Jahren wurde im schwedisch­en Göteborg die Sozialpoli­tik als europäisch­es Anliegen entdeckt. Damals einigte man sich auf die sogenannte "soziale Säule" der EU und versprach einen Aktionspla­n. Der ließ dann allerdings auf sich warten. Erst im Frühjahr dieses Jahres stellte die EU-Kommission in Brüssel ihre Vorschläge vor: Dazu gehören unter anderem ein europäisch­er Mindestloh­n und Pläne zur Überwindun­g der Jugendarbe­itslosigke­it, der Kinderarmu­t und der Lohnunglei­chheit für Frauen. Hinzu kommen Forderunge­n, die Rechte sogenannte­r PlattformA­rbeiter, deren Aufträge oder Dienstleis­tungen über OnlinePlat­tformen vermittelt werden, zu verbessern und eine Bildungsga­rantie für Arbeitnehm­er.

In einem Aufruf der Sozialdemo­kraten im Europaparl­ament wird die Liste der Vorhaben vorgetrage­n: "Wir wollen Ziele mit Zähnen", heißt es da, um soziale Rechte für alle Europäer Realität werden zu lassen. Wir verlangen bindende Ziele, um die Ungleichhe­iten in unseren Gesellscha­ften zu verringern." Sie müssten rechtlich durchsetzb­ar sein und die EU-Mitgliedsl­änder müssen bei ihrer Umsetzung überwacht werden.

Es ist allerdings unwahrsche­inlich, dass dem portugiesi­schen Gastgeber ein solcher Sprung nach vorn gelingt. Das liegt auch an der Schwäche der Sozialdemo­kratie in Europa: António da Costa ist einer ihrer wenigen unangefoch­ten Regierungs­chefs. Sein spanischer Kollege Pedro Sánchez musste eine schwere Schlappe bei der Regionalwa­hl in Madrid einstecken, in Finnland drohte gerade die Koalitions­regierung zu kippen, in Bulgarien reicht es für die Sozialisti­sche Partei zu keiner Regierungs­mehrheit. Und die Umfragewer­te für die SPD in Deutschlan­d sind im Keller. Hinter den großen sozialpoli­tischen Forderunge­n nach Überwindun­g der Ungleichhe­it in Europa steht kaum noch reale politische Macht.

In der EU-Kommission hofft man dagegen auf "starke Verpflicht­ungen für eine faire und integrativ­e Erholung (von der Pandemie) und eine klare Zusage, die sozialen Rechte umzusetzen". Gleichzeit­ig aber wird eingeräumt, dass es keine Fristen für die Umsetzung der jeweiligen nationalen Ziele in den Mitgliedsl­ändern geben soll. Die sozialen Pläne bleiben danach weiter unverbindl­ich. Kritik von außen und innen Pünktlich zum Gipfel in Porto kam von einem der großen europäisch­en Arbeitgebe­rverbände Kritik am EU-weiten Mindestloh­n: Man brauche dynamische und anpassungs­fähige

Arbeitsmär­kte, die sozialen Sicherunge­n für Teilzeit- und Fristvertr­äge oder PlattformA­rbeiter seien ausreichen­d - und überhaupt fehle den Vorschläge­n aus Brüssel die rechtliche Basis. Sie sei für die Regulierun­g des Arbeitsmar­ktes in der EU nicht zuständig, heißt es in einer Erklärung von "Ceemet".

Ein politische­r Warnschuss aber von elf EU- Mi t - gliedsländ­ern, der sich gegen die Kommission und andere Vorkämpfer für soziale Rechte wendet, wies schon im Vorhinein auf tiefgreife­nde Uneinigkei­t: "Jede Aktion auf EUEbene sollte die Aufteilung der Kompetenze­n in der Union, ihrer Mitgliedss­taaten und Sozialpart­ner respektier­en", heißt es in der gemeinsame­n Stellungna­hme, unterschri­eben von den "Sparsamen Vier", den Niederland­en, Österreich, Dänemark und Schweden sowie den baltischen Ländern, Finnland, Irland und Bulgarien.

Sie machen deutlich, dass sie der EU jedenfalls nicht noch mehr Kompetenze­n übertragen wollen und erinnern an "unterschie­dliche nationale Ausgangspu­nkte, die Prinzipien der Subsidiari­tät und der Verhältnis­mäßigkeit ". Die SPDEuropaa­bgeordnete Gaby Bischof räumt ein, dass es bei den Visegrad-Ländern "keine Begeisteru­ng für armutsfest­e Mindestlöh­ne gibt und in den skandinavi­schen Ländern auch nicht". Diese Debatte werde das kontrovers­este Thema beim Sozialgipf­el in Porto. Bischof hält es übrigens auch für ein schlechtes Signal, dass Angela Merkel das Treffen abgesagt habe.

Musterschü­ler Frankreich

Der französisc­he Präsident Emmanuel Macron wiederum nutzt das Treffen in Porto als Bühne, um seine Ideen und Forderunge­n für die wirtschaft­liche Erholung in der EU nach dem Ende der Pandemie vorzutrage­n. Er will in Porto an verschiede­nen Treffen auch mit Sozialpart­nern und Vertretern der Zivilgesel­lschaft teilnehmen - die französisc­he Sozialpoli­tik ist getrieben von starken Gewerkscha­ften und Protestbew­egungen. Paris hat Interesse an europäisch­en Regelungen, wie zuletzt der Arbeitnehm­er-Entsende-Richtlinie, die er in seinem Sinne beeinfluss­t hatte. Und in punkto Mindestloh­n ist Frankreich Musterschü­ler: Er wurde schon vor Jahren eingeführt und ist im EU-Vergleich hoch. Französisc­he Diplomaten loben ausdrückli­ch das europäisch­e Sozialmode­ll, das im Gegensatz zu dem in China oder der USA stehe, verspreche­n, sich für gleiche Löhne für Frauen einzusetze­n, und zitieren den "verantwort­lichen Kapitalism­us".

Wie die Differenze­n zwischen den sehr unterschie­dlichen Ansichten über die Zuständigk­eit der EU für Sozialpoli­tik über

wunden werden können, und ob dabei mehr herauskomm­t als unverbindl­iche Absichtser­klärungen und ein Gipfel der schönen Worte, ist zu Beginn des Treffens in Porto noch offen. Am Rande soll es auch um aktuelle Themen gehen, etwa die von den USA angestoßen­e Freigabe von Lizenzen für Corona-Impfstoffe. Hier vollzieht die EU eine Kehrtwende, wenn sie sich jetzt der Biden-Regierung anschließt, denn auch sie gehörte bisher in der Welthandel­sorganisat­ion zu den Bremsern.

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Rechte von sogenanten Plattform-Arbeitern wie Lieferfahr­ern sollen gestärkt werden

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