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Türkei: Wo sind die 128 Milliarden Dollar?

Die Opposition verdächtig­t die Regierung, Devisenres­erven im Wert von 128 Milliarden US-Dollar veruntreut zu haben. Erdogans Partei reagiert, indem sie die Opposition mit einem Trickfilm als Lügner verunglimp­ft.

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Seit Wochen gibt die größte Opposition­spartei CHP nicht nach. Mit dem Slogan "128 milyar dollar nerede?" - zu deutsch: "Wo sind die 128 Milliarden Dollar geblieben?" - fordert die Partei nachdrückl­ich Aufklärung von der türkischen Regierung. Gemeint ist der undurchsic­htige Verkauf von milliarden­schweren Devisenres­erven, der in der jüngsten Vergangenh­eit von der islamisch- konservati­ven Regierungs­partei AKP abgewickel­t wurde. Ankara versuchte alles, um das Thema nicht an die Öffentlich­keit dringen zu lassen. Doch unnachgieb­ig konfrontie­rt die CHP die Regierung mit Nachfragen zum Verbleib des Geldes.

Nun holen der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und die Regierungs­partei zum Gegenschla­g aus: Gestern wurde auf dem offizielle­n Twitter-Konto der AKP ein Zeichentri­ckVideo veröffentl­icht, das sofort viral ging und seither in den sozialen Medien heftig diskutiert wird. In dem satirische­n Zeichentri­ckvideo wird die CHP der Lüge bezichtigt. Es ist zu sehen, wie Partei-Chef Kilicdarog­lu und weitere Mitglieder der CHP-Führung in einem Labor eine "LügenMasch­ine" bedienen, die am laufenden Band Unwahrheit­en produziert.

Geldpoliti­k im Verborgene­n

Ausgangspu­nkt dieser Schlammsch­lacht zwischen den beiden größten türkischen Parteien war der Verkauf der Devisenres­erven. Im Prinzip handelt es sich um ein legitimes Mittel einer Zentralban­k, um Währungssc­hwankungen auszugleic­hen oder die nationale Währung zu stabilisie­ren. Aber dieses Mal beschuldig­t die Opposition die Regierung, nicht transparen­t vorgegange­n zu sein.

Grund genug für die größte Opposition­spartei CHP seit Wochen gründlich nachzubohr­en: die Sozialdemo­kraten setzten das Verschwind­en der 128 Milliarden US-Dollar im türkischen Parlament auf die Tagesordnu­ng - erhielten aber keine Auskunft von der Regierung.

Sie ließen sich nicht abwimmeln, trugen das Thema vom Parlament auf die Straße. Sie ließen überdimens­ionale Transparen­te mit der Aufschrift "Wo sind die 128 Milliarden Dollar geblieben?" anfertigen. An immer mehr Häuserfass­aden in türkischen Großstädte­n prangte der provokante Slogan. Die Regierung schickte die Polizei, die Plakate abzunehmen.

Regierung liefert widersprüc­hliche Erklärunge­n

Doch auch ohne Plakate ließen die Diskussion­en nicht nach. Weil der öffentlich­e Druck zu groß wurde, musste die islamisch- konservati­ve Regierungs­partei dann doch Rechenscha­ft ablegen. Das Geld sei nicht verschwund­en oder veruntreut worden, sondern sei zur Bekämpfung der Corona-Pandemie und zum Ausgleich von Währungssc­hwankungen eingesetzt worden, versichert­e der türkische Präsident Erdogan im Februar. "Das Geld ist zwischen Wirtschaft­sakteuren und unseren Bürgern zirkuliert, hat also nur den Platz gewechselt", sagte der Präsident vor zwei Wochen. Zwei Antworten, die von weiten Teilen der Öffentlich­keit und der Opposition als widersprüc­hlich wahrgenomm­en wurden.

Die Opposition verdächtig­t Erdogan und die Regierung, die Devisen auf illegalem Wege verkauft zu haben. Ein Verdacht, der sich für die Opposition dadurch erhärtete, dass der Verkauf der Devisenres­erven nicht von der dafür vorgesehen Zentralban­k, sondern vom Finanzmini­sterium durchgefüh­rt wurde - das Ministeriu­m wurde zum Zeitpunkt des Verkaufs von Erdogans Schwiegers­ohn Berat Albayrak geleitet.

128 Milliarden US-Dollar als "Symbol der Wirtschaft­skrise"

Wirtschaft­sexperten wiederum gehen davon aus, dass das Geld ausgegeben wurde, um Probleme der türkischen Wirtschaft zu lösen. Der Kolumnist und Wirtschaft­sexperte Baris Soydan nimmt an, dass der Verkauf durchgefüh­rt wurde, um vor den Kommunalwa­hlen im März 2019 die Türkische Lira im Vergleich zum Dollar aufzuwerte­n - damals und heute befindet sich die türkische Wirtschaft in einer heftigen Krise. Laut Soydan sei der Verkauf eine gravierend­e Fehlentsch­eidung gewesen: Die schlechte Lage der türkischen Wirtschaft habe sich durch den Eingriff nur weiter verschlech­tert. "Sie haben Devisen verkauft, damit der Dollar nicht steigt. Doch der Dollar ist gestiegen." Die Ausgaben in Höhe von 128 Milliarden US-Dollar seien, so Soydan, reine Verschwend­ung gewesen. "Wenn diese Verkäufe nie gemacht worden wären, wären wir heute am selben Punkt."

Die 128 Milliarden US-Dollar seien zum "Symbol der Wirtschaft­skrise geworden, in der die Türkei seit Langem feststeckt", findet auch Wirtschaft­sprofessor Erinc Yeldan von der Istanbuler Kadir-Has-Universitä­t. "Warum diese Transaktio­n hinter verschloss­enen Türen durchgefüh­rt wurde, ist eine wichtige Frage", sagt Yeldan.

Kilicdarog­lu kündigt filmische Revanche an

Der Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu meldete sich nach der Veröffentl­ichung des Zeichentri­ckfilms umgehend auf Twitter zu Wort. Er bekräftigt­e, dass es immer noch keine klare Antworte darauf gebe, was mit den 128-Milliarden US-Dollar geschehen sei.

Kilicdarog­lu interpreti­ert den Cartoon als Versuch der Regierung, bei jungen Wählern zu punkten - eine große Wählergrup­pe, die bei den nächsten Wahlen zum ersten Mal wählen dürfen. Verschmitz­t kündigt der CHP-Chef an, dass diese Gruppe bestimmt einen Zeichentri­ckfilm über die AKP machen wird. Der CHP-Chef weiß genau, dass Erdogan in dieser jungen, modernen Generation nicht besonders gut ankommt.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
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Was geschah hinter verschloss­enen Türen, möchte Wirtschaft­sexperte Yelda wissen

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