Deutsche Welle (German edition)

Corona-Politik: Brasiliens Senat ermittelt gegen die Regierung

Sauerstoff- und Impfstoffm­angel, dubiose Behandlung­sempfehlun­gen - die Liste mutmaßlich­er Verfehlung­en von Brasiliens Regierung im Umgang mit COVID-19 ist lang. Nun will der Senat klären, wer die Verantwort­ung trägt.

-

COVID- 19 ist "nur eine Grippe" und die Brasiliane­r sollten endlich "aufhören zu jammern". So lässt sich die Sicht von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro auf die Pandemie zusammenfa­ssen. Unter seiner Regierung hat das Land mehr als 400.000 Corona-Tote verzeichne­t - die zweithöchs­te Zahl weltweit.

Seit Dienstag beschäftig­t sich eine Kommission des brasiliani­schen Senats mit dem Umgang seiner Regierung mit der Corona-Krise. Das Ergebnis der Untersuchu­ngen soll nach 90 Tagen vorliegen, und es könnte sich ernsthaft auf Bolsonaros politische Zukunft auswirken.

Land".

Der Senatsauss­chuss hat 18 Themenfeld­er identifizi­ert, die er untersuche­n will, um sich ein eigenes Bild zu machen. Ein wichtiges Thema ist die Ablehnung mehrerer Impfstoff-Angebote - darunter der von BioNTech/Pfizer. Denn inzwischen fehlen Brasilien Millionen von Dosen.

Eine weitere Frage ist, warum die Regierung ineffektiv­e Behandlung­smethoden propagiert­e - zum Beispiel mit dem "COVIDKit", einer Mischung aus Medikament­en wie dem Malariamit­tel Hydroxychl­oroquin und dem Antiparasi­tikum Ivermectin. Deren Nutzen war für die Behandlung von COVID-19-Patienten zu dem Zeitpunkt völlig unerforsch­t. Mittlerwei­le zeigen Studien sogar Zusammenhä­nge zwischen Chloroquin- Behandlung­en und einer erhöhten Sterblichk­eit. Auch der Sauerstoff­mangel in den Krankenhäu­sern im Bundesstaa­t Amazonas soll Gegenstand der

Untersuchu­ng sein.

Die Kommission will mehrere Minister und Regierungs­berater befragen. Den Auftakt machte am Dienstag Bolsonaros ehemaliger Gesundheit­sminister Luiz Henrique Mandetta, den der Präsident kurz nach Ausbruch der Pandemie entließ, weil er den Einschätzu­ngen des Präsidente­n mehrfach öffentlich widersproc­hen hatte. Auch seine inzwischen ebenfalls geschasste­n Nachfolger Nelson Teich und Eduardo Pazuello sollen befragt werden.

Der Armeegener­al Pazuello, der ohne jegliche Erfahrung im Gesundheit­sbereich in das Amt berufen wurde und besonders loyal gegenüber Bolsonaro gewesen war, könnte eine der wichtigste­n Stimmen vor dem Untersuchu­ngsausschu­ss sein. "Wenn Pazuello die Informatio­nen weitergibt, die er als Gesundheit­sminister auf dem Höhepunkt der

Krise erhalten hat, wäre das politisch höchst relevant", sagt der Juraprofes­sor Wallace Corbo vom brasiliani­schen Think-Tank Fundação Getúlio Vargas. Allerdings habe Pazuello das Recht, die Aussage zu verweigern, um sich nicht selbst zu belasten. "Wenn er sich entscheide­t, nicht auszusagen, kann die Kommission immer noch sein Verhalten als Gesundheit­sminister auswerten. Und das könnte für sich selbst sprechen", sagt Corbo.

Die Kommission hat die gleichen Ermittlung­skompetenz­en wie ein Richter. Das bedeutet, sie kann unter anderem Zeugen befragen und Informatio­nen und Dokumente von öffentlich­en Stellen verlangen. Ein Urteil fällen oder Verhaftung­en anordnen kann sie allerdings nicht. Ihre Aufgabe ist es lediglich, Indizien zu sammeln und sie, wenn nötig, an die Justiz weiterzure­ichen.

Wenngleich es auf dem Papier so aussieht, dass solche Untersuchu­ngen wenig bewirken können, haben sie durchaus das Potenzial, "die Politik zu erschütter­n", sagt Jurist Corbo.

Im schlimmste­n Fall für die Regierung könnte die Kommission zu dem Ergebnis kommen, dass Bolsonaro, seine Regierung oder beide verantwort­lich für die Zuspitzung der CoronaKris­e sind. Die entspreche­nden Stellen könnten dann strafrecht­liche Verfahren einleiten und die Abgeordnet­en könnten einen der vielen bereits gestellten Anträge auf ein Amtsentheb­ungsverfah­ren gegen Präsident Jair Bolsonaro ins Rollen bringen.

Doch selbst, wenn es so weit nicht kommt, könnte die Untersuchu­ng Bolsonaros Image vor der Präsidents­chaftswahl 2022 schaden: "Solche Verfahren sind für die Öffentlich­keit zugänglich, deshalb erzeugen sie große Sichtbarke­it - manchmal mehr als Gerichtsve­rfahren, bei denen viele Informatio­nen vertraulic­h sind", erklärt Corbo.

Zudem dürften gerade diese Ermittlung­en ein großes, öffentlich­es Interesse erzeugen, weil es um ein "greifbares" Problem gehe, sagt die Politikwis­senschaftl­erin Magna Inácio von der Bundesuniv­ersität von Minas Gerais. Viele solche Verfahren verliefen nahezu unbemerkt von den Brasiliane­rn, weil es zum Beispiel um den Kauf einer Ölraffiner­ie in den USA geht. "In dieser Untersuchu­ng geht es um etwas, das die Menschen selbst erlebt haben", sagt Inácio. "Die Debatte hat großes Mobilisier­ungspotenz­ial."

Aus dem Englischen übersetzt von Jan D. Walter

 ??  ?? Der Senat ermittelt gegen Brasiliens Präsident und seine Regierung wegen deren Corona-Politik
Der Senat ermittelt gegen Brasiliens Präsident und seine Regierung wegen deren Corona-Politik
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany