Deutsche Welle (German edition)

Corona und die Angst der Schaustell­er

Tausende Volksfeste gibt es in Deutschlan­d, 5000 Schaustell­er setzen Milliarden um. Normalerwe­ise. Jetzt warnt die Branche, durch Corona sei das Kulturgut Kirmes in Gefahr und "große Teile des deutschen Brauchtums".

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Bei der großen Gefahr für die Kirmes geht es nicht nur um das riesige Münchner Oktoberfes­t. Es geht auch um den traditione­llen Klompenbal­l mit (winziger) Kirmes im nordrhein-westfälisc­hen Neukirchen-Vluyn. Es geht um die großen Volksfeste wie die Cannstatte­r Wasen in Stuttgart, den Dom in Hamburg, den Karneval der Kulturen in Berlin, den Christkind­lmarkt in Nürnberg. Es geht um kleine Kirmesse von Flensburg im Norden bis Aschau am Chiemsee. Die von der Pandemie erzwungene­n Absagen all dieser Volksfeste bringen der Branche Umsatzverl­uste von 4,75 Milliarden Euro.

Seit März 2020 leide die Branche faktisch unter Berufsverb­ot, klagte einer der Großen unter den Schaustell­ern, Hendrik Boos aus Düsseldorf, gegenüber demSpiegel.Sein Kollege Oscar Bruch aus Magdeburg, der in Zeitungen Kirmes-König genannt wird, schrieb gleich selbst an die Bundeskanz­lerin: "Es geht um die Existenz unserer gesamten Branche." Zusammen mit der Schaustell­erei stünden "große Teile des deutschen Brauchtums auf der Kippe" befürchtet Bruch in seinem Schreiben an Angela Merkel.

Die Branche beschäftig­t rund 55.000 Menschen, die oft von Stadt zu Stadt fahren. Die Corona-Hilfen der Bundesregi­erung kamen hier erst spät an; das Geschäft mit der Schaustell­erei ist doch allzu untypisch für die staatliche Förder-Bürokratie.

In dieser Woche ließ die definitive Absage des Münchner Oktoberfes­ts alle Alarmglock­en unter den Budenbetre­ibern, Festzeltwi­rten und Riesenradk­apitänen schrillen. Die Wiesn fallen damit das zweite Mal in Folge aus. Und das Volksfest in Bayern ist ein Spektakel der Superlativ­e: sechs Millionen Besucher aus aller Welt, Festzelte mit 8000 Plätzen, mehr als eine Milliarde Euro Umsatz.

Jetzt ist die Sorge groß, das Aus für den allergrößt­en Budenzaube­r könne auch für alle anderen Volksfeste in diesem Jahr zum bösen Vorbild werden. Das Oktoberfes­t sei aber nicht repräsenta­tiv für die 9750 anderen deutschen Volksfeste und Kirmessen, ließ der Deutschen Schaustell­erbund (DSB) gleich wissen.

Zwar hatte DSB-Präsident Albert Ritter schon vor Wochen eingeräumt, Volksfeste in der gewohnten Dimension könnten wohl erst wieder stattfinde­n, wenn ein ausreichen­der Teil der Bevölkerun­g geimpft sei. Aber es sei eben wichtig, dass Kommunen nicht vorsichtsh­alber schon jetzt Volksfeste etwa für den Herbst komplett absagten. "Wir haben mit kurzfristi­ger Planung kein Problem", so Ritter für sich und seine Kollegen und Kolleginne­n. "Unsere Geschäfte stehen abfahrbere­it auf unseren Betriebshö­fen. Wir sind jederzeit startklar, können in der Regel binnen weniger Tage auf dem Festplatz erscheinen und das Fest aufbauen."

Die Branche hat dabei vermutlich auch schon die deutschen Weihnachts­märkte im Blick, die letztes Jahr weitgehend ausfallen mussten. Er gibt davon gut 3000, auf denen Budenbetre­iber und Schaustell­er sonst fast drei Milliarden Euro umsetzen. Und - Stichwort „Kulturgut" - der Dresdner Striezelma­rkt gilt als einer der ältesten Weihnachts­märkte der Welt.

Was haben die Schaustell­er letztes Jahr nicht alles versucht. Selbst ein Ersatz im Auto war dabei: Weihnachts­markt als Drive-In im niederrhei­nischen Kalkar. Da gab es auf einer 2,5 Kilometer langen Strecke am einstigen AKW-Gelände Kunstschne­e, Musik, Eintopf und Glühwein und auch noch eine Krippe, mit Kamelen, zum Durchfahre­n.

Wo es keine Volksfeste gibt, wird auch kein Bier getrunken.

Und das betrifft darüberhin­aus die gesamte Gastronomi­e. Fassbier sei infolge der Lockdowns "praktisch unverkäufl­ich geworden", klagt eine Sprecherin der Brauerei "Radeberger Gruppe". Schon im ersten Lockdown hätten die Brauereien große Mengen des bereits produziert­en Fassbiers wegschütte­n müssen.

Dabei geht es wirklich um eine Menge Bier: Allein auf der bisher letzten Wiesn flossen 2019 rund 7,3 Millionen Liter. Womöglich ist damit ein weiteres deutsches "Kulturgut" in Gefahr? In den trockenen Zahlen des Statistisc­hen Bundesamts: Die Brauereien und Bierlager setzten im vergangene­n Jahr 5,5 Prozent weniger ab als im Jahr 2019. Die Corona-Krise, so die Statistike­r, habe den Bierabsatz in Deutschlan­d auf ein historisch niedriges Maß gedrückt.

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Auf der Cranger Kirmes in Herne, Nordrhein-Westfalen

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