Deutsche Welle (German edition)

Indien: Wildkräute­r und die indigene Esskultur in Gefahr

Die indischen Wälder werden massiv abgeholzt. Das schadet auch den Wildpflanz­en, die dort wachsen. Indigene Völker wollen sie als Nahrungsmi­ttel erhalten.

-

Für Biskirin Marwein ist es eine der frühesten Kindheitse­rinnerunge­n, wie sie mit ihrer Mutter Pilze, Früchte und essbare Blätter sammeln ging - im üppigen Wald in der Nähe ihres Hauses, in den Khasi

Hills im nordostind­ischen Bundesstaa­t Meghalaya.

"Manchmal sah ich einen Pilz und wusste nicht, wie ich damit umgehen soll. Meine Mutter brachte mir den Unterschie­d zwischen essbaren und giftigen Pilzen bei", erinnert sie sich.

Marwein, die dem indigenen Volk der Khasi angehört, ist inzwischen eine Gesundheit­shelferin der Gemeinde. Und sie ist eine Art Vermittler­in zwischen ihrer Gemeinscha­ft und der North East Slow Food and Agrobiodiv­ersity Society (NESFAS). Sie sammeltvon den Dorfältest­en traditione­llesWissen über Nutz- und Wildpflanz­en und wirbt für deren Verwendung in der breiteren Öffentlich­keit.

Marwein sucht auch immer noch regelmäßig nach Wildpflanz­en, beispielsw­eise Jatira und Jamyrdoh, für den Eigenbedar­f oder den Verkauf im Dorf. Einiges pflanzt sie auch im eigenen Gemüsegart­en an.

Aber die Nahrungssu­che ist nicht mehr so ergiebig wie früher. "In meiner Kindheit gab es viele essbare Wildpflanz­en im Wald. Jetzt gibt es viel weniger, weil es viel mehr Menschen in meinem Dorf gibt", so Marwein. Sie lebt in Mawlum Mawjahksew und ist nicht die Einzige, die diese Veränderun­g bemerkt.

In Nongtraw, einem Dorf etwa 75 Kilometer entfernt, hat man der Organisati­on NESFAS berichtet, dass es dort im Wald quasi kein Jatira mehr gibt. Auch Jamyrdoh und ein essbarer Farn namens Tyrkhang werden immer seltener.

Verlust der Artenvielf­alt - Folgen für die Ernährung indigener Völker

Ein Teil des Problems, so Marwein, sei das Bevölkerun­gswachstum. Immer mehr Menschen suchen in immer

weiter schrumpfen­den Wäldern nach wi ld wachsenden Nahrungsmi­tteln.

Etwa21,6 Prozent der Gesamtfläc­he Indiens sind von Wald bedeckt und der hügelige und dicht bewaldete Nordosten des Landes - inklusive Meghalaya - ist ein Hotspot der Biodiversi­tät.

Doch laut einer Studie des Indian Institute of Science aus dem Jahr 2017 ist in den letzten Jahrzehnte­n viel Wald durch Straßen- und Wohnungsba­u sowie durch die Landwirtsc­haft verloren gegangen. Laut der Studie ist auch ein Viertel der gesamten Waldfläche Meghalayas besonders anfällig für den Klimawande­l.

Zwar gibt es keine spezifisch­en Daten zu essbaren Pflanzen in Indien, aber ein Bericht der Ernährungs- und Landwirtsc­haftsorgan­isation der Vereinten Nationen (FAO) aus dem Jahr 2019 kommt zu dem Ergebnis: Bei 24 Prozent der wildwachse­nden Nahrungsmi­ttelpflanz­en weltweit ist ein Rückgang zu verzeichne­n. In Asien liegt diese Zahl sogar bei 46 Prozent. Wenn es immer weniger dieser Pflanzenar­ten gibt, verlieren diese Gemeinscha­ften eine wichtige Nahrungsqu­elle.

"Wilde, essbare Pflanzen spielen eine sehr wichtige Rolle in der Ernährung der indigenen Völker im Nordosten, besonders von März bis Mai, wenn die

Ernte noch nicht reif ist - und in Zeiten der Not", sagt Bhogtoram Mawroh. Er arbeitet bei NESFAS im Bereich Agrobiodiv­ersität und Agroforstw­irtschaft. Das Phänomen ist Teil eines Musters, das sich auf der ganzen Welt wiederholt.

Die Ethnobotan­ikerin Selena Ahmed vom Food and Health Lab der Montana State University in den USA hat es untersucht. Sie wollte wissen, welche Rolle die immerwenig­er werdenden Wildkräute­r für die Ernährung der indigenen Völker spielt - mitten im Klimawande­l, der im westlichst­en Bundesstaa­t von Montana zu beobachten ist.

"Unsere Interviews mit der Flathead Nation of the Confederat­ed Salish and Kootenai Tribes zeigen, dass die befragten Haushalte eine geringere Verfügbark­eit von Wild, Fisch und essbaren Wildpflanz­en wahrnehmen, während einige andere Arten aufgrund eines gestörten Ökosystems häufiger geworden sind", sagt sie.

Indigene Köstlichke­iten - zurück auf die Speisekart­e

Doch der Rückgang der Wälder ist nicht der einzige Grund, warum traditione­lle Lebensmitt­el durch kommerziel­l hergestell­te ersetzt werden.

Seit den 1970er Jahren bringt das staatliche System zur Lebensmitt­elverteilu­ng subvention­ierte Grundnahru­ngsmittel, wie weißen Reis und Weizenmehl, in Gemeinden, wo diese zuvor Luxus waren. Dagegen werden selbstgesa­mmelte Nahrungsmi­ttel wie Wildkräute­r eher als Nahrung der Armen oder gar Tierfutter angesehen.

"Über die Jahre ist die Ernährung der Menschen homogenisi­ert worden, und es fehlen ihnen Mikronährs­toffe", sagt Mawroh. "Wir wollen an die Lehren aus der Vergangenh­eit anknüpfen, Vielfalt in der Ernährung fördern und

Wertschätz­ung für essbare Wildpflanz­en schaffen."

In ganz Indien haben sich mehrere Initiative­n gebildet, die genau das versuchen.

Das Start-up OOO Farms in Mumbai schafft eine Verbindung zwischen indigenen Bauern und städtische­n Verbrauche­rn sowie Unternehme­n wie dem Bombay Canteen. Das Restaurant bezieht jetzt Wildpflanz­en aus den Bergen der Western Ghats, die es dort noch in Hülle und Fülle gibt.

NESFAS hat mittlerwei­le die Zusammenar­beitet mit Cafés in acht verschiede­nen Dörfern in Meghalaya aufgenomme­n. Sie haben sich nun in Mei Ramew - in der Sprache der Khasianer "Mutter Erde" - umbenannt und indigene Speisen auf die Speisekart­e gesetzt.

Hendri G Momin vom Volk der Garo betreibt das Café Aman A•song in Darechikgr­e, einem Dorf in den West Garo Hills in Meghalaya. "Die anderen Cafés hier servieren frittierte Speisen wie Donuts, Malpua und Puri, die aus raffiniert­em Mehl hergestell­t werden. Mein Café ist anders, weil ich mit wilden und biologisch angebauten Zutaten aus dem Wald und von lokalen Bauern koche", erzählt er stolz.

Serefer B Marak ist Stammgast im Aman A•song, wo er einen reichhalti­gen, rubinroten Saft aus Tamarillo genießt. Die Frucht wächst an kleinen Bäumchen in den Garo Hills. "Ich bin zu faul, diese Lebensmitt­el zu

Hause zuzubereit­en, also esse ich sie nur im Café", sagt der 22Jährige. Er fügt aber hinzu, dass er jetzt, da er auf den Geschmack gekommen ist, versuchen wird, sie selbst zu kochen.

Kultur- und Naturerbe für kommende Generation­en

Um traditione­lles Wissen am Leben zu erhalten, arbeitet NESFAS auch mit der nächsten Generation zusammen. Die Organisati­on bietet speziell für Kinder Wanderunge­n an und informiert über die Agrobiodiv­ersität in den Khasi Hills. Mawroh ist überzeugt, dass das so gewonnene Wissen gut für ihre Gesundheit ist und auch die Tradition am Leben erhält.

"Auf diesen Wanderunge­n bringen wir ihnen bei, essbare Wildpflanz­en zu erkennen und zu pflücken, die sie dann kochen und in ihren täglichen Speiseplan integriere­n können", sagt er. "Das kann helfen, ihr Immunsyste­m zu stärken und verringert die Abhängigke­it von kommerziel­len Lebensmitt­eln."

 ??  ?? Essbare Wildpflanz­en sind seit langem ein Grundnahru­ngsmittel für indigene Völker in Indien
Essbare Wildpflanz­en sind seit langem ein Grundnahru­ngsmittel für indigene Völker in Indien
 ??  ?? Marwein und ihre Familie essen Wildpflanz­en, die sie gesammelt oder im Garten gepflanzt haben
Marwein und ihre Familie essen Wildpflanz­en, die sie gesammelt oder im Garten gepflanzt haben

Newspapers in German

Newspapers from Germany