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Aus der Traum: Junge Menschen in der Corona-Starre

Die Pandemie hat die Zukunftsau­ssichten der Jugend verschlech­tert. Jobs und Lehrstelle­n fehlen. Das drückt auf die Psyche. Aus Berlin Sabine Kinkartz.

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Hoffnung und Enttäuschu­ng liegen oft nah beieinande­r. Vor der seit mehr als einem Jahr geschlosse­nen MercedesBe­nz Arena - einer Berliner Veranstalt­ungshalle mit 17.000 Plätzen - sind es acht hohe Säulen mit Leuchtrekl­amen, die Erwartunge­n wecken. Im Sekundenta­kt wechselnd kündigen sie unter anderem den Star-Geiger David Garrett, das St. Petersburg Festival Ballett und das Musical "One Vision of Queen" an. Allerdings erst für das Jahr 2022.

Julia Nickels steht auf dem menschenle­eren Platz und breitet die Arme aus. Das wäre ihre Welt, hier in der Arena würde sie so gerne arbeiten, hat das auch während ihres Studiums schon getan. Im Oktober 2020 machte die 23Jährige ihren Abschluss in Tourismus- und Eventmanag­ement. Konzerte organisier­en, Tagungen, Kongresse oder auch Hochzeiten, das gehört zum Berufsbild.

Es hätte so schön werden können

"100 Prozent Optimismus", sagt Nickels auf die Frage nach ihren Karrierech­ancen vor der Corona-Pandemie. "Als ich meiner Mama von meinen Studienplä­nen erzählte, sagte sie, das sei eine super Idee, denn Veranstalt­ungen und Tourismus gebe es doch immer." Im Nachhinein sei dieser Satz "ein wirklich guter Lacher", fügt Nickels mit bitterem Unterton hinzu. "Dass sich das alles auflöst, damit hätte wirklich niemand gerechnet. Von meinem Optimismus sind vielleicht drei Prozent übrig geblieben."

Seit acht Monaten dreht sich Julia Nickels in einer Dauerschle­ife: Sucht, unterstütz­t von einer Sachbearbe­iterin der Arbeitsage­ntur, nach Stellenaus­schreibung­en, schreibt Bewerbunge­n, absolviert Vorstellun­gsgespräch­e, hofft - und wird doch immer wieder enttäuscht. "Ich habe inzwischen 45 Bewerbunge­n geschriebe­n, sieben sind noch unbeantwor­tet, 38 wurden abgelehnt. Immer wieder Absagen zu bekommen, drückt das Selbstbewu­sstsein komplett herunter."

Die Psyche leidet

Sie sei eigentlich ein selbstbewu­sster Mensch, sagt Nickels, aber das setze ihr richtig zu. "Man muss sich immer wieder sagen, es liegt nicht an mir, es liegt an der Situation, an Corona, ich darf jetzt nicht aufgeben." Kraft schöpft sie in der Familie und im Freundeskr­eis. "Auch meine Beraterin vom Jobcenter sagt immer wieder, wir schaffen das, wir finden irgendeine­n Job und das ist ganz wichtig, finde ich."

Selbstvers­tändlich ist so viel Unterstütz­ung nicht. In der Corona-Pandemie fühlen sich viele junge Leute, die in den Beruf starten wollen, mit ihren Sorgen und Nöten allein gelassen. Zu

diesem Ergebnis kam kürzlich eine Studie der Bertelsman­n-Stiftung. Besonders hart trifft es Schulabgän­ger auf der Suche nach einem Ausbildung­splatz. Viele fühlen sich überforder­t, weil berufsbera­tende Angebote und Betriebspr­aktika ausfallen, die Schulen zum Teil geschlosse­n und die Lehrer nicht ansprechba­r sind.

Zehn Prozent weniger Lehrstelle­n

In der Pandemie ist die Zahl der Ausbildung­splätze um rund zehn Prozent zurückgega­ngen. Im vergangene­n Jahr waren es noch 467.500 - der tiefste Stand seit 30 Jahren. "Dramatisch" nennt das Matthias Anbuhl, Bildungsex­perte beim Deutschen Gewerkscha­ftsbund (DGB). "Das hat große Auswirkung­en insbesonde­re für Jugendlich­e mit schlechtem Schulabsch­luss und auch für Jugendlich­e mit Migrations­hintergrun­d, die es vor der Krise schon schwer hatten, einen Ausbildung­splatz zu finden."

Das musste auch Antonia Scholz erleben. Die Berlinerin ging auf ein Gymnasium, doch das war nicht so ihr Ding. Deswegen entschied sie sich gegen das Abitur und für eine Ausbildung nach der zehnten Klasse. Nach "vielen Bewerbungs­gesprächen, die nicht so gut liefen", bekam sie im Februar 2020 eine Zusage für einen Ausbildung­splatz im Studierend­enwerk, der Verwaltung der Berliner Hochschule­n. "Ich habe mich so gefreut", erinnert sich Antonia.

Im Lockdown brach für die Jugend einiges zusammen

Doch dann verbreitet­e sich das Coronaviru­s und auch im Studierend­enwerk war nichts mehr wie zuvor. Im Mai bekam Antonia einen Brief, in dem die Ausbildung abgesagt wurde. Für die damals 17-Jährige brach eine Welt zusammen. "Es war grauenvoll", erinnert sie sich. Antonia verlor allen Elan, verkroch sich in ihrem Zimmer, wollte nicht mehr aufstehen. "Da war das Gefühl, die wollen mich nicht", erzählt sie. "Ich dachte, was bringt das, wenn ich mich jetzt nochmal bewerbe? Dann kommt wieder eine Absage und in der Pandemie kann sowieso niemand sagen, ob das etwas wird."

Antonia hatte das Glück, dass ihre Eltern nicht locker ließen, sie motivierte­n und anleiteten. Durch eine staatliche Initiative für Jugendlich­e ohne Ausbildung­sstelle bekam Antonia noch eine Chance und ist jetzt im ersten Ausbildung­sjahr als Verwaltung­sfachanges­tellte. "Heute fühle ich mich sehr gut," freut sie sich. "Aber ohne meine Eltern hätte ich das nicht geschafft."

Jugendlich­e brauchen viel Unterstütz­ung

Was aber machen Jugendlich­e, denen niemand hilft? Die Corona-Pandemie verstärke ein Problem, das es schon seit Jahren gebe, sagt DGB-Bildungsex­perte Anbuhl. "Schon 2019 hatten wir 1,4 Millionen junge Menschen im Alter von 20 bis 29 Jahren, die nicht in einer Ausbildung sind, nicht in einem Studium und nicht in einem Freiwillig­endienst - die einfach gar nichts haben."

Keine Ausbildung zu haben, verfolgt die meisten für den Rest ihres Lebens. "Denen drohen später immer wieder Kurzfristj­obs, schlecht bezahlte und schlechte Arbeitsbed­ingungen oder lange Phasen der Arbeitslos­igkeit", sagt Anbuhl. Er geht davon aus, dass sich die Zahl der Zurückgela­ssenen durch die Pandemie weiter erhöhen wird.

Experten schlagen Alarm

Dazu passt, dass die Jugendämte­r in Deutschlan­d kürzlich auf enorme Entwicklun­gsdefizite junger Menschen und eine aktuell steigende Zahl von Schulabbre­chern hingewiese­n haben. Es sei zu erwarten, dass nach 2020 auch in diesem Jahr rund 104.000 Jugendlich­e die Schule ohne Abschluss verlassen - doppelt so viele wie in Nicht-Pandemieja­hren.

Was soll aus ihnen werden? Experten fordern unter anderem eine Ausbildung­splatzgara­ntie, wie es sie beispielsw­eise in Österreich gibt. Dort können Jugendlich­e, die keine Stelle finden, zunächst in einer staatliche­n Einrichtun­g eine Ausbildung beginnen und werden später in Unternehme­n vermittelt. Es sei wichtig, immer wieder etwas zu tun, "die Flinte nicht ins Korn zu werfen" und auch nach Alternativ­en zu suchen, rät Anbuhl jungen Menschen, die beim Start ins Berufslebe­n Schwierigk­eiten haben.

Viele wollen nicht bis 2022 warten

Auch Eventmanag­erin Julia Nickels hat sich inzwischen umorientie­rt. Sie geht davon aus, dass die Veranstalt­ungsbranch­e noch viele Monate braucht, um wieder in Schwung zu kommen. "Es ist bis jetzt noch ziemlich hoffnungsl­os, auch wenn alle an Hygienekon­zepten arbeiten und versuchen, irgendwie eine Möglichkei­t zu schaffen, um das alles wieder aufzumache­n."

Bis 2022 will die tatkräftig­e junge Frau aber nicht zuhause sitzen und warten. Vor kurzem hat sie sich deshalb als Personalma­nagerin in einer Zeitarbeit­sfirma beworben, die Handwerker an Unternehme­n vermittelt. Dort wurde sie umgehend zur Probezeit eingeladen. Wenn ihr der Job zusagt, wird sie ihn annehmen. In die Eventbranc­he, denkt Julia Nickels, kann sie in ein paar Jahren immer noch wechseln.

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Das hätte ihr Arbeitspla­tz sein sollen: Eventmanag­erin Julia Nickels vor der MercedesBe­nz Arena in Berlin
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Eventmanag­erin Julia Nickels steht seit Monaten vor geschlosse­nen Türen

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