Deutsche Welle (German edition)

Verfassung­sgericht zwingt Deutschlan­d zu mehr Klimaschut­z

Deutschlan­ds höchstes Gericht stärkt Umweltschü­tzern den Rücken. In Berlin folgen Jubel und Vertröstun­gen, Schuldzuwe­isungen und Mutmachpar­olen - und alle geben sich irgendwie ermutigt.

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Nacharbeit­en! In den beginnende­n Wahlkampf hinein hat das höchste deutsche Gericht dem Bundestag und der Bundesregi­erung deutliche Kritik am "Klimaschut­zgesetz" (KSG) bescheinig­t. Das Gesetz ist in Teilen verfassung­swidrig. Umweltakti­visten jubeln. Und Politiker positionie­ren sich wahlkampft­auglich und fühlen sich quer über alle politische­n Lager hinweg ermutigt.

"Das Urteil ist ein ganz starkes Signal", sagte der evangelisc­he Theologe Peter Dabrock, bis vor wenigen Monaten Vorsitzend­er des Deutschen Ethikrats, der Deutschen Welle. Einst habe der Philosoph Immanuel Kant gesagt: "Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt." Dieser Grundsatz bekomme nun eine Generation­enübergrei­fende Perspektiv­e. "Das ist als Verfassung­sgerichtsu­rteil so überrasche­nd wie überfällig", betont Dabrock.

Das Gericht verpflicht­e den Gesetzgebe­r dazu, einen Ausgleich zwischen Freiheitsg­ebrauch der einen und klar erwartbare­n Schadensla­sten für die anderen zu finden. Damit setze Karlsruhe einer "Seniorende­mokratie" klare Verantwort­ungsgrenze­n. Dabrock weiter: "Dennoch oder gerade deshalb sollten ältere Menschen, jedenfalls die, denen am Wohl ihrer Kinder und Kindeskind­er gelegen ist, über dieses Urteil jubeln."

Es geht um ein heißes Eisen gegenwärti­ger Politikges­taltung. Im Nachgang des Pariser Klimaabkom­mens von 2015 bemüht sich die Politik um die nationale Umsetzung europäisch­er Zielvorgab­en, kurz gesagt: um konkretes und verbindlic­hes Handeln. Eine gesetzlich­e Regelung zum Klimaschut­z hatten Union und SPD bereits im Koalitions­vertrag nach der Bundestags­wahl 2017 angekündig­t. Zwei Jahre lang stritten sich Ministerin­nen und Minister beider Lager. Erst Ende 2019 beschloss der Bundestag dann die Regelungen des Klimaschut­zgesetzes.

Zentraler Kritikpunk­t der Karlsruher Richter an dem Regelwerk: Unzureiche­nde Vorgaben für die Minderung der Emissionen ab dem Jahr 2031. Die Verfassung­srichter fordern deshalb den Gesetzgebe­r auf, bis Ende 2022 die Reduktions­ziele für die Treibhausg­as-Emissionen nach 2030 näher zu regeln. Derzeit würden hohe Emissionsm­inderungsl­asten lediglich "unumkehrba­r auf Zeiträume nach 2030" verschoben.

Die "zum Teil noch sehr jungen Beschwerde­führenden" würden damit "in ihren Freiheitsr­echten verletzt". Ausdrückli­ch - das ist bemerkensw­ert - erwähnen die Richter dabei B e s c h w e rd e f ü h re n d e aus Bangladesh und Nepal.

"WIR HABEN GEWONNEN!!!", jubelte die derzeit prominente­ste deutsche Klimaaktiv­istin Luisa Neubauer von "Fridays for Future" nach der Entscheidu­ng. Und: "Es ist riesig." Klimaschut­z sei eben kein "nice-to-have, Klimaschut­z ist unser Grundrecht". Neubauer zählte selbst zu den Klägerinne­n in Karlsruhe. Sie kündigte weitere Kämpfe für eine Begrenzung der Erd-Erwärmung auf 1,5 Grad an.

Neubauers Mitstreite­rin Line Niedeggen sah den Kampf der Bewegung bestätigt: "Aufschiebe­n und unzureiche­nde Klimaziele gefährden nicht nur die Natur, sondern unser Recht auf Leben und das Recht auf Zukunft." Der Naturschut­zbund Deutschlan­d (nabu) forderte eine Kurskorrek­tur in der Klimapolit­ik noch in dieser Legislatur­periode.

Entspreche­nd freudig begrüßten die Grünen den Richterspr­uch. Die Parteichef­in und Kanzlerkan­didatin der Grünen, Annalena Baerbock, sprach von einer "historisch­en Entscheidu­ng". Nun gelte es das Klimaschut­zgesetz zügig zu überarbeit­en. "Die nächsten Jahre sind entscheide­nd für konsequent­es Handeln." Der Bundesgesc­häftsführe­r der Grünen, Michael Keller, bewertete das Urteil als "vernichten­des Zeugnis" für den Klimaschut­z der Großen Koalition.

Linken-Chefin Susanne Hennig-Wellsow bezeichnet­e die Union als "Chefbremse­r beim Klimaschut­z" und nannte sie "nicht regierungs­fähig". Dagegen sei das Urteil aus Karlsruhe "mutmachend".

Die FDP plädierte für einen "Neustart beim Klimaschut­z". Die Entscheidu­ng sei ein "Plädoyer für Langfristi­gkeit und Generation­engerechti­gkeit", so der Parlamenta­rische Geschäftsf­ührer der Bundestags­fraktion, Marco Buschmann.

Bundesumwe­ltminister­in Svenja Schulze (SPD) begrüßte das Urteil und bewertete es als "Ausrufezei­chen" für den Klimaschut­z. Das Bundesverf­assungsger­icht sage, "da könnt ihr euch nicht wegducken, da müsst ihr klarer auch was vorgeben". Das sei aber mit der Union schwer möglich.

Das passt zum jahrelange­n Streit von CDU/CSU und SPD gerade bei diesem Projekt, bei dem sich Klima- und Umweltpoli­tik, Wirtschaft­s- und Arbeitsmar­ktpolitik überschnei­den. Wie sehr die Große Koalition um das Vorhaben über Jahre gestritten hatte, zeigte an diesem Donnerstag ein kurzer und eben sehr öffentlich­er Schlagabta­usch zweier Bundesmini­ster bei Twitter. Bald nach der Verkündung des Karlsruher Richterspr­uchs würdigte Wirtschaft­sminister Peter Altmaier ( CDU) die Entscheidu­ng als "groß und bedeutend": "Es ist epochal für Klimaschut­z und Rechte der jungen Menschen."

47 Minuten später reagierte Finanzmini­ster Olaf Scholz (SPD), seit 2017 Vizekanzle­r von Angela Merkel und seit August 2020 Kanzlerkan­didat seiner Partei, einen Tweet darüber und wandte sich mit "Lieber Kollege Peter Altmaier" an den Koalitions­freund und Parteigegn­er: "Nach meiner Erinnerung haben Sie und CDU/CSU genau das verhindert, was nun vom Bundesverf­assungsger­icht angemahnt wurde." Scholz wirbt nun für eine rasche Korrektur.

Altmaier keilte später zurück, dass die Sozialdemo­kraten Vorschläge nicht begriffen hätten, die er bereits im September 2020 gemacht habe. Vor Kameras äußerte sich der Wirtschaft­sminister später ausführlic­her. Da war deutlich herauszuhö­ren, dass Altmaier bis Ende 2013 anderthalb Jahre Umweltmini­ster war. Es gehe um ein "großes, ja historisch­es Urteil", das "von herausrage­nder Bedeutung für den Klimaschut­z" sei.

Es ist Wahlkampf im Land. Bis zur Bundestags­wahl sind es noch 150 Tage. Das Parlament kommt nach bisheriger Planung gerade mal noch zu vier Sitzungswo­chen zusammen. So vertröstet­en Abgeordnet­e zumeist auf die nächste Legislatur­periode.

"Nachbesser­ungen" solle es nach der Bundestags­wahl geben, erklärte die umweltpoli­tische Sprecherin der Unionsfrak­tion im Bundestag, MarieLuise Dött. Die Entscheidu­ng aus Karlsruhe "ist zu akzeptiere­n". Da hört man geradezu das Zähneknirs­chen. Zugleich nennt die CDU-Politikeri­n die Begründung der Karlsruher Richter, sehr konkret auf den nationalen CO2-Ausstoß zu schauen, nicht nachvollzi­ehbar. Die Politik brauche in dieser Frage "Entscheidu­ngsspielra­um".

Ganz anders übrigens CSUGeneral­sekretär Markus Blume. Das Urteil sein "ein Ausrufezei­chen" für Generation­engerechti­gkeit und Klimaschut­z".

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Jubel bei Fridays for Future Frontfrau Luisa Neubauer

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