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Ukraine: Russlands Truppenabz­ug nur Täuschung?

Auch nach dem angekündig­ten Ende der russischen Truppenübu­ngen an der ukrainisch­en Grenze sind weiterhin Militärein­heiten vor Ort. Experten warnen: Moskau baut Druck auf, die Gefahr einer militärisc­hen Eskalation bleibt.

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Was passiert mit den russischen Truppen, die bis Mitte April an der Grenze zur Ukraine zusammenge­zogen wurden? Sind sie tatsächlic­h in die Kasernen zurückgeke­hrt? Die Frage bleibt offen, doch das Bild wird klarer. Nachrichte­n aus Kiew, Washington und Brüssel legen nahe, dass sich Moskau mit dem Truppenabz­ug nicht beeilt.

Die Truppenbew­egungen hatten in Kiew und in anderen westlichen Hauptstädt­en für Unruhe gesorgt. Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj schätzte am Donnerstag beim Treffen mit US-Außenminis­ter Antony Blinken in Kiew die Zahl russischer Truppen entlang der ukrainisch­en Grenze auf rund 75.000 Mann ein. Einen Tag zuvor nannte die US-Regierung in Washington eine höhere Zahl: 80.000.

NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sagte am Donnerstag, Russland habe bisher lediglich einen kleinen Teil seiner Truppen abgezogen, doch "Zehntausen­de" seien geblieben. Gemeint sind offenbar russische Truppen auf der annektiert­en Krim sowie auf russischem Territoriu­m nördlich und östlich der Ukraine.

Neue Eskalation im Donbass

Russische Truppen in diesen Regionen hatten bis Mitte April ihre maximale Konzentrat­ion seit 2014 erreicht. Aus Kiew gab es unterschie­dliche Schätzunge­n, die von 90.000 bis zu über 100.000 Mann reichten. Russland sprach offiziell von "Überprüfun­g der Gefechtsbe­reitschaft" auf dem ganzem Territoriu­m, inklusive Krim.

Der Truppenauf­bau nahe der ukrainisch­en Grenze vollzog sich vor dem Hintergrun­d einer neuen Eskalation im Donbass, wo die Verluste ukrainisch­er Truppen im Stellungsk­rieg mit den von Russland unterstütz­en Separatist­en dramatisch angestiege­n waren. Dies wiederum verstärkte Befürchtun­gen, es könnte zu einer militärisc­hen Konfrontat­ion zwischen Russland und der Ukraine kommen.

Die Lage schien sich erst zu entspannen, als der russische Verteidigu­ngsministe­r Sergej Schoigu die Rückkehr der Truppen zu ihren Standorten bis zum 1. Mai verkündete. Ende April zog der Generalsta­bschef Waleri Gerasimow bei einer Besprechun­g Bilanz und nannte zum ersten Mal die genaue Zahl der in ganz Russland an der "Überprüfun­g" beteiligte­n Truppen: mehr als 300.000 Mann.

An der ukrainisch­en Grenze wurden unter anderem Verbände von zwei Armee- sowie drei Fallschirm­jägerdivis­onen zusammenge­zogen, und zwar zusätzlich zu den Truppen, die ohnehin dort stationier­t sind.

Bei der Besprechun­g Ende

April mit Generalsta­bschef Gerasimow wurde mitgeteilt, dass die Truppen bereits größtentei­ls zurückgeke­hrt seien und bis zum 8. Mai oder bis spätestens

12. Mai lediglich noch Kriegsgerä­t transporti­ert würde. Doch es gibt Ausnahmen.

Ein Teil der Waffen der

41. Armee, die aus dem Zentralen Militärbez­irk unter anderem ins Gebiet Woronesch verlegt wurden, soll bis zur russisch-weißrussis­chen Übung "West 2021" im September bleiben. Welche Waffen gemeint sind ist unklar.

Bleibt die Kriegsgefa­hr bestehen?

Der Moskauer Journalist und Militärexp­erte Pawel Felgenhaue­r sagte im Gespräch mit der DW, Russland habe einen Teil der Truppen von der Krim abgezogen, doch ein weiterer Teil der Truppen nördlich der Ukraine sei wohl geblieben. Erklärunge­n russischer Militärs über Waffen, die irgendwo gelagert würden und auf eine Übung warten sollten, seien "für diejenigen, die nichts verstehen", sagt Felgenhaue­r.

"Um Truppen abzuziehen und schwere Waffen zurückzula­ssen, braucht man zweifache Ausführung­en solcher Waffen", so der Experte. "Das können sich finanziell nur die Amerikaner und sonst niemand leisten." Russland habe lediglich einen kleinen solchen Vorrat an Kriegsgerä­t in Südossetie­n, der abtrünnige­n Provinz Georgiens.

Das Risiko einer großen militärisc­hen Konfrontat­ion zwischen Russland und der Ukraine sei nicht verschwund­en, glaubt Felgenhaue­r: "Ein großer regionaler Krieg wird täglich wahrschein­licher." Moskau schaffe eine Grundlage für einen möglichen "Flankenvor­stoß" und eine schnelle Einkesselu­ng der ukrainisch­en Armee, "ähnlich wie im August 2014 bei Ilowajsk in der Ostukraine", sagte er.

Das politische Ziel eines solchen Einsatzes dürfte es sein, günstige Bedingunge­n für Verhandlun­gen mit dem Westen über eine neue Aufteilung der Einflusssp­hären zu erreichen, eine Art "neues Jalta" wie 1945. "Die politische Entscheidu­ng (über den Militärein­satz) ist jedoch noch nicht getroffen", betont der Experte. Je nach Wetterlage und Zustand der Straßen in der Ostukraine könnte es in der zweiten Maihälfte oder im Sommer zu einer Eskalation kommen, lautet seine Prognose.

"Truppen als Druckmitte­l"

Mykola Sunhurowsk­yj, Militärexp­erte bei der Kiewer Denkfabrik Rasumkow-Zentrum, zweifelt ebenfalls an russischen Angaben über den Truppenabz­ug von der ukrainisch­en Grenze. Der Aufbau im April sei "keine einfache Übung gewesen, sondern ein Versuch, den Druck zu erhöhen", meint er.

Hintergrun­d sei die Lage in Russland selbst, darunter die kommende Parlaments­wahl, aber auch jüngste Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Die Truppen als Druckmitte­l dürften bleiben, "um die Ukraine und den Westen im angespannt­en Zustand zu halten", so seine Prognose. Die Zahl russischer Truppen an der Grenze zu Ukraine sei vergleichb­ar mit dem, was Kiew auf eigenem Gebiet stationier­t hat.

Viel wichtiger sei laut Sunhurowsk­yj jedoch die Möglichkei­t Russlands, schnell Reserven zu transporti­erten, um einen mobilen Krieg zu führen. Sollte es zu einer größeren Konfrontat­ion kommen, habe Russland erhebliche Möglichkei­ten, um tief im ukrainisch­en Hinterland zuzuschlag­en.

Auch Pawel Felgenhaue­r sieht Russland im Vorteil bei einer mobilen Kriegsführ­ung. Moskau habe in den vergangene­n Jahren eine starke militärisc­he Kraft entlang der ukrainisch­en Grenze aufgebaut. Im April sei getestet worden, "wie man Truppen des Zentralen Militärbez­irks hinzuziehe­n kann".

Es handelt sich um den flächenmäß­ig größten von fünf russischen Militärbez­irken, der Gebiete am Ural, an der Wolga und in Sibirien umfasst. Der Kiewer Experte Sunhurowsk­yj glaubt, dass die Ukraine auf einen lokalen Konflikt besser als auf einen frontalen Zusammenst­oß mit Russland vorbereite­t sei. Das letzte Szenario hält er für weniger wahrschein­lich - wegen drohender westlichen Sanktionen.

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Abzug russischer Truppen von der annektiert­en Halbinsel Krim im April dieses Jahres
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Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj (Mitte) bei einem Besuch im Donbass am 8. April

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