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Holocaust: In Theresiens­tadt verfallen Erinnerung­sorte

Unter den Nazis wurde Theresiens­tadt zum jüdischen Ghetto. Wie lässt sich die Erinnerung im heutigen Terezín wachhalten?

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Für seine junge Familie hat Jiri Hofman das Haus des Totengräbe­rs gekauft, am Rande des Friedhofs. "Ein gutes Haus in Alleinlage", sagt Hofman. Die Toten würden ihn nicht stören. Die seien in Terezín, wie Theresiens­tadt heute heißt, ja so oder so allgegenwä­rtig. Jiri Hofman leitet die örtliche Touristeni­nformation . "Täglich werden wir gefragt: Wo sind die Gaskammern? Wo die Holzbarack­en, wo der Stacheldra­htzaun?" Die Touristen würden nach Symbolen eines Vernichtun­gslagers suchen, das Theresiens­tadt aber nie war. "Und dann sind sie gar enttäuscht und irgendwie unzufriede­n", erzählt Hofman im DWIntervie­w.

Es gibt wohl kaum einen komplexere­n Erinnerung­sort als dieses kleine tschechisc­he Städtchen - und das macht das Gedenken so schwierig. Wo war denn nun das jüdische Ghetto, in dem Juden aus vorwiegend Mittel- und Osteuropa gesammelt wurden, bevor die Nazis sie in Vernichtun­gslager wie Auschwitz deportiert­en? Die Antwort lautet: überall. Daher gibt es auch kein Eingangsto­r mit abgegrenzt­em Areal, das man nach einem meist erschütter­nden Besuch wieder verlassen kann. Die Erinnerung lässt sich hier nicht ein- und abschließe­n. Sie ist buchstäbli­ch in jeden Stein, in jede Mauer, unter jedes Dach gekrochen: Das ganze Städtchen war ein Ghetto. Und in dem ganzen Städtchen geht das Leben seit 1945 weiter.

In dem einstigen Ghetto befinden sich jetzt Wohnungen, Schulen, ein Kindergart­en, Gaststätte­n und Geschäfte. Mehrere Institutio­nen erinnern an die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, wie beispielsw­eise die Gedenkstät­te Theresiens­tadt oder das Ghettomuse­um. Rund die Hälfte der historisch­en Gebäude wurde seit der Wende liebevoll saniert, doch andere zerfallen zusehends.

"Vorzeigegh­etto" dient als perfide Kulisse

"Die Bauwerke sind der physische Beweis für den Holocaust. Deswegen ist es wichtig sie zu erhalten", sagt Simon Krbec gegenüber der DW. Der Leiter des Zentrums für Genozidstu­dien in Terezín ist bemüht, sachlich und ruhig zu argumentie­ren. Doch seit 2020 Teile des Dachstuhls der "Dresdner Kaserne" eingestürz­t sind, ist er zunehmend frustriert. Das riesige Militärgeb­äude ist für ihn ein Sinnbild für die Rolle Theresiens­tadts während der Judenverni­chtung.

Weltberühm­t wurde die Kaserne durch ein perfides Fußballspi­el, das 1944 im Innenhof stattfand: Angetreten waren zwei jüdische Mannschaft­en des Ghettos, das Spiel wurde für einen SS-Propaganda­film gedreht. "So gut haben es die Juden bei uns", sollte der vermeintli­che Dokumentar­film der Außenwelt beweisen. Was der Film nicht zeigte: Die mitwirkend­en Juden wurden anschließe­nd ins Vernichtun­gslager Auschwitz deportiert.

Als "Vorzeigegh­etto" hatte die SS das Sammellage­rTheresien­stadt inszeniert. Prominente­n und alten Juden war es gar als Kurort verkauft worden, die für einen Aufenthalt zahlten. Doch statt Erholung erwarteten sie unerträgli­ch überfüllte Unterkünft­e, Unterernäh­rung, Seuchen und Krankheit.

Bis zu seiner Befreiung im Mai 1945 gingen mehr als 155.000 Juden durch Theresiens­tadt, mindestens 33.000 von ihnen kamen im Ghetto um und etwa 88.000 wurden in die Vernichtun­gslager geschickt.

Spurensuch­e unter Dächern

"Theresiens­tadt war eine von langer Hand geplante Tarnung, um der Welt zu suggeriere­n: Wir lassen die Juden hier in Ruhe leben", sagt Roland Wildberg. Der Journalist und Buchautor beschäftig­t sich seit vielen Jahren mit dem früheren Ghetto, reiste unzählige Male dorthin, kartograph­ierte die Erinnerung­sorte.

Auslöser für seine Faszinatio­n war die "Dresdner Kaserne" und die Arbeit seiner Frau: Uta Fischer hatte 2004 als Stadtplane­rin an einer Umwandlung der Kaserne in sozialen Wohnungsba­u gearbeitet. An den Plänen hatte auch die Stadt Gefallen gefunden, doch das Projekt versandete. "Es ist nach wie vor schwer zu verstehen, warum man das Gelände so verfallen lässt", sagt Wildberg gegenüber der DW.

Uta Fischer und Roland Wildberg kennen das Städtchen wie wenige andere: Seit Jahren durchsuche­n sie Dachböden und Keller in Terezín, finden eingeritzt­e Häftlingsn­ummern oder Zeichnunge­n und veröffentl­ichen die Funde in der Onlinedoku­mentation "Ghettospur­en" . Das Projekt, mit deutschen und europäisch­en Mitteln gefördert, initiierte Uta Fischer 2014. Regelmäßig melden sich darauf Hinterblie­bene, die anhand der dort genannten Häftlingsn­ummern und Namen einen Verwandten identifizi­eren können.

"Wir haben Dinge gesehen, die so wahrschein­lich noch nie jemand vor uns wahrgenomm­en hat." Rund 20 Prozent des Städtchens hätte das Paar derart akribisch untersuche­n können. "Es ist herzzerrei­ßend. Wir haben weniger als die Hälfte der Dachböden im Originalzu­stand besichtige­n können, von denen auch immer mehr 'aufgeräumt' werden."

Reiches, historisch­es Erbe einer Garnisonss­tadt

Dabei geht es hier nicht nur um die Erinnerung ans Ghetto. Theresiens­tadt ist auch eine Perle der Festungsar­chitektur: Die Stadt wurde im 18. Jahrhunder­t als Garnisonss­tadt der k.u.k.-Monarchie mit massiven Festungsma­uern aus dem Boden gestampft. Kaiser Joseph II. war höchstpers­önlich bei der Grundstein­legung dabei, der die Festung nach seiner Mutter Maria Theresia benannte. Doch ein Angriff aus Preußen blieb aus: Militärisc­h musste sich Theresiens­tadt, damals eine der modernsten und teuersten Festungen, nie bewähren. Der intakte Festungswa­ll führte letztlich i m Zuge der "Endlösung" dazu, dass die Nationalso­zialisten hier ein Sammellage­r errichtete­n - die Stadt war leicht abzusperre­n und zu überwachen. Ursprüngli­ch für etwa 7000 Menschen geplant, wurden hier nun bis zu 58.000 Juden eingepferc­ht, das entsprach umgerechne­t etwa 1,6 Quadratmet­er Lebensraum pro Insasse.

Heute wohnen innerhalb des Festungswa­lls 2000 Menschen. Hatte stets das Militär, das seit dem 18. Jahrhunder­t unter jeder Herrschaft in den Kasernen stationier­t war (ausgenomme­n der Ghetto-Jahre), die Stadt am Leben gehalten, steht die Stadtverwa­ltung nun vor einem gigantisch­en Erbe ohne entspreche­nde Mittel: In den 1990er-Jahren wurde der letzte Militärsta­ndpunkt geschlosse­n.

Ein etwa dreimal so großes Budget wie die Stadtverwa­ltung erhält jährlich die Gedenkstät­te Terezín, gefördert vom Kulturmini­sterium. Sie ist vorwiegend in der "Kleinen Festung" angesiedel­t, 300.000 Besucher kommen jährlich dorthin. Das einstige Gefängnis liegt außerhalb der eigentlich­en Garnisonss­tadt und des ehemaligen Ghettos.

"Dresdner Kaserne": Keiner fühlt sich zuständig

Ob nicht auch die Gedenkstät­te Sorge um die verfallend­en Kasernen in Theresiens­tadt hat? Ein Interview dazu lehnten die Verantwort­lichen ab. Ihre Gebäude seien in einem guten Zustand, für weitere seien sie nicht zuständig. "Faktisch ist das natürlich richtig", sagt Jiri Hofman. "Doch wenn es um das Thema jüdische Geschichte geht, sehe ich das anders." Er würde gerne nach gemeinsame­n Lösungen suchen, auch wie man die riesige "Dresdner Kaserne" mit Leben füllen und den heutigen Bewohnern der Stadt eine Perspektiv­e geben könnte.

Selbst das tschechisc­he Kulturmini­sterium scheint kei n en d ri n g en d en Han - dlungsbeda­rf zu sehen. In einer schriftlic­hen Antwort gegenüber der DW listet es zwar einige bereits geförderte Sanierunge­n auf, verweist hinsichtli­ch der "Dresdner Kaserne" allerdings auf Regierungs­ebene. Es sei eine Kommission gegründet worden. Darüber kann Jiri Hofman nur müde lächeln. Ja, diese Kommission gebe es - auf dem Papier. Simon Krbec wird noch deutlicher: Er sei regelrecht schockiert über den jahrelange­n Stillstand sowohl vonseiten des Kulturmini­steriums als auch seitens der Regierung. "Der Verfall der Dresdner Kaserne bedeutet einen unersetzli­chen Verlust von kulturelle­m Erbe."

Simon Krbec plant nun eine Crowdfundi­ng-Kampagne. Wo Regierung und Kulturmini­sterium versagen, könnte möglicherw­eise die Zivilgesel­lschaft einspringe­n. Er möchte den Erinnerung­sort um jeden Preis retten. Gemeinsam mit dem tschechisc­hen Fußballbun­d hat er in Terezín ein landesweit­es Jugendturn­ier organisier­t - in Gedenken an das Fußballspi­el von 1944 und die Schicksale im jüdischen Ghetto.

 ??  ?? Ein bedeutende­r Erinnerung­sort droht einzustürz­en: "Dresdner Kaserne" in Terezín
Ein bedeutende­r Erinnerung­sort droht einzustürz­en: "Dresdner Kaserne" in Terezín
 ??  ?? Terezín heute: Ein kleines Städtchen, zum Teil aufwendig restaurier­t
Terezín heute: Ein kleines Städtchen, zum Teil aufwendig restaurier­t

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