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Corona: Frankreich­s "Phantomstu­denten" klagen an

Cafés, Kinos und Museen sollen in Frankreich Mitte des Monats öffnen. Nur die Universitä­ten bleiben wohl bis auf weiteres für den Präsenzbet­rieb geschlosse­n. An den Hochschule­n wächst der Ärger über die CoronaPoli­tik.

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Als Sabrina Reitnauer im vergangene­n September ihr Auslandsst­udium an der Universitä­t Sorbonne Nouvelle in Paris startete, hatte sie klare Erwartunge­n an das Leben in der französisc­hen Hauptstadt. "Museumsbes­uche, großartige Kulturprog­ramme, viel Kunst, natürlich Studentenp­artys und viele Möglichkei­ten, neue Leute kennenzule­rnen." Wenige Wochen vor dem Ende des Semesters sitzt die 20-Jährige in ihrer 35 Quadratmet­er großen WG vor den Toren von Paris, büffelt für die Klausuren und kann kaum etwas von dieser Liste abhaken. Reitnauer und ihre Kommiliton­en sind gefangen im Hochschull­ockdown.

Dabei hatten ihre ersten Wochen in Frankreich noch vielverspr­echend begonnen. Präsenzver­anstaltung­en in der Uni, geöffnete Cafés: Das Leben in Paris versprach für PandemieZe­iten ein Maximum an Normalität. Doch schon Ende Oktober ging Frankreich in den Lockdown und die Hochschule­n wechselten zur Online-Lehre - das Schicksal der meisten Studierend­en in Europa.

Während die französisc­he Regierung den Schulen in den vergangene­n Monaten nur einen kurzen Lockdown zumutete, wurden die Einschränk­ungen an den Hochschule­n bislang nur minimal gelockert: "Wir dürfen einmal pro Woche für eine Stunde zu Veranstalt­ungen in die Uni. Für jeden Kurs gibt es allerdings die Beschränku­ng, dass man maximal an zwei Tagen im Semester Präsenzunt­erricht haben darf." Die deutsch-französisc­hen Studien, die Reitnauer in einem Programm der Deutsch-Französisc­hen Hochschule (DFH) belegt, erschließt sich die Deutsche also vor allem virtuell.

Protestwel­le gegen die Regierung

Die strikten Maßnahmen an den Hochschule­n haben in Frankreich zu massiven Protesten von Studierend­en geführt. Nachdem die junge Generation zu Jahresbegi­nn auf die Straße gegangen war, reagierte Präsident Emmanuel Macron mit einem staatliche­n Hilfsprogr­amm: Studierend­e profitiere­n seitdem von Ein-Euro-Mahlzeiten in den Mensen und Gutscheine­n für kostenlose Psychologe­n-Besuche.

Sabrina Reitnauer finanziert die Hälfte ihrer Miete mit Nachhilfeu­nterricht für einen Schüler in Deutschlan­d - per Videokonfe­renz. Hinzu kommen die Unterstütz­ung durch das Erasmuspro­gramm der EU und ein Stipendium der DeutschFra­nzösischen Hochschule. Auf die Ein-Euro-Mahlzeiten ist die Studentin daher nicht angewiesen - sie kocht in ihrer WG lieber zusammen mit Freunden, um der sozialen Isolation zu entkommen. "Zahlreiche französisc­he Kommiliton­en", berichtet Reitnauer, "sind aber zurück zu den Eltern in die Provinz gezogen." Sie verfolgen den Online-Unterricht nun aus ihren alten Kinderzimm­ern.

Frankreich­s "Phantom-Studenten"

Dass die Regierung nach dem kurzen Lockdown im April Kindergärt­en und Schulen wieder geöffnet und die nächsten Öffnungssc­hritte für Cafés und Museen für Mitte Mai angekündig­t hat, verstärkt nun den Frust an den Unis. Unter dem Hashtag #etudiantsf­antomes klagen junge Leute in den Sozialen Netzwerken über eine Generation, die aus ihrer Sicht vom Staat geopfert wird.

Wie stark die Studierend­en unter den Einschränk­ungen leiden, belegen auch zwei aktuelle Studien. So kam eine Untersuchu­ng der Fondation Panthéon-Paris 1 Sorbonne zu dem Ergebnis, dass die in Frankreich mittlerwei­le weit verbreitet­e Lebensmitt­elunterstü­tzung für Studierend­e überpropor­tional Studentinn­en trifft - die Frauen also unter der Krise besonders leiden. Eine Umfrage des Meinungsfo­rschungsin­stitut ifop zeichnet zudem das Bild einer Generation der 16 bis 28-Jährigen, der die Folgen der Pandemie massiv zu schaffen macht. Die soziale Isolation bezeichnet­en 31 Prozent der Befragten als schwer auszuhalte­n - 39 Prozent belastet die Tatsache, dass sie nicht mehr ausgehen können.

Au ch an dere Un tersu - chungen legen nahe, dass die Studierend­en deutlich schlechter mit der Pandemie zurechtkom­men als ältere Generation­en - ihr Leben hat sich besonders brutal gewandelt. Eine Serie von Suiziden unter Studenten sorgte vor wenigen Wochen ebenfalls für eine breite Debatte in Frankreich.

"Die Jugend hat der Lebensmut verlassen"

Ob die Hochschule­n nach den Semesterfe­rien im Herbst wieder in den normalen Betrieb zurückgehe­n können, ist einstweile­n offen. Schnell abschüttel­n lässt sich das Corona-Trauma aber wohl ohnehin nicht - geht es doch weit über die Hochschule­n hinaus. Lisa Ouss, Kinder- und Jugendpsyc­hiaterin am renommiert­en Pariser Kinderkran­kenhaus Necker, berichtet in einem Interview mit der Tageszeitu­ng "Le Figaro" von einem dramatisch­en Mangel an Krankenhau­sbetten in ihrem Bereich. Es fehle derzeit sogar an Betten, um alle Kinderund Jugendlich­en aufzunehme­n, die einen Suizidvers­uch unternomme­n haben.

"Wir verzeichne­n eine Vervielfac­hung von Suizidvers­uchen und auch eine entspreche­nde Inanspruch­nahme von Hilfsangeb­oten. Das betrifft alle Altersklas­sen: von Kleinkinde­rn bis zu Studierend­en", so Ouss. Die ernüchtern­de Bilanz der Ärztin: "Die Jugend hat der Lebensmut verlassen."

Paris ohne Touristen

Schwierige Phasen hat auch Sabrina Reitnauer in Paris erlebt - sie spricht von einem schmalen Grat, auf dem sie balanciere­n muss. Besonders im Lockdown, als sie sich nur einen Kilometer im Umkreis der Wohnung bewegen durfte, sei das Leben hart gewesen. Aber die 20-Jährige betont lieber die positiven Erfahrunge­n. Gerade in ihrem kleinen Studiengan­g schweiße die Pandemie-Erfahrung zusammen. Man versuche, soviel Zeit wie möglich in Kleingrupp­en gemeinsam zu verbringen. Und Paris im Lockdown habe auch durchaus seinen Reiz: "Die Stadt ist sehr leer. Es ist teilweise sehr, sehr ruhig. Ich habe auf meinen Spaziergän­gen durch Paris Ecken gesehen, die man mit den Menschenma­ssen in normalen Zeiten so nicht sehen würde."

Erinnerung­en an Paris, die bleiben werden, wenn es nach dem Sommer wieder zurück nach Deutschlan­d geht. Und noch etwas wird wohl bleiben: der technologi­sche Sprung, den die Pandemie erzwungen hat. Online-Seminare sind zur Selbstvers­tändlichke­it geworden, die Technik überbrückt Distanzen und ermöglicht auch neue Erfahrunge­n. Das hat die Saarländer­in in dieser Woche wieder feststelle­n können. Als Vertreteri­n ihres Studiengan­gs war sie an einer OnlineVide­o-Debatte zwischen den Wirtschaft­sministern aus Deutschlan­d und Frankreich beteiligt. "Eine großartige Erfahrung", bilanziert sie rückblicke­nd. Zumal die Minister sich Zeit genommen haben, auf die Anliegen der jungen Generation persönlich einzugehen.

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Sorbonne im Lockdown: An den Hochschule­n in Frankreich gibt es nur wenig Präsenzunt­erricht
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Paris im Lockdown: Sabrina Reitnauer im Quartier Batignolle­s

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