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Proteste wegen drohender Zwangsräum­ungen in Ostjerusal­em

Vier palästinen­sischen Familien droht die Zwangsräum­ung durch jüdische Siedlerorg­anisatione­n im Ostjerusal­emer Stadtteil Scheich Dscharrah. Die angekündig­te Vertreibun­g hat Proteste und Zusammenst­öße in Israel ausgelöst.

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Das sonst eher ruhige Viertel Sheikh Jarrah in Ostjerusal­em kommt nicht zur Ruhe, auch in der Nacht zu Sonntag kam es erneut zu Ausschreit­ungen zwischen Palästinen­sern und Israelis, Die Hilfsorgan­isation Roter Halbmond sprach von mehr als 80 Verletzten.

Seit Tagen gibt es jeden Abend Mahnwachen und Proteste von jungen Palästinen­sern und Einwohnern. Das Oberste Gericht Israels soll entscheide­n, ob vier der hier ansässigen Familien ihre Häuser räumen müssen - zugunsten von israelisch­en Siedlern. Jeden Abend kommen sie deshalb zum Fastenbrec­hen bei Sonnenunte­rgang zusammen. Dafür ist eine lange Tafel gleich vor dem Haus der Familie Al Kurd aufgebaut, eine von vier Familien, die vom Rausschmis­s bedroht ist.

Gegenüber schauen jüdische Siedler zu. Nach einem Gerichtsen­tscheid vor rund zehn Jahren haben sie das Haus auf der anderen Seite übernommen und eine palästinen­sische Familie vor die Tür gesetzt. "Sheikh Jarrah hat einen systematis­chen Schub von der israelisch­en (Besatzungs-) Regierung gesehen, um unsere Häuser zu übernehmen. Und es gibt klare Absprachen zwischen den Siedler-Organisati­onen und dem israelisch­en Justizsyst­em, um uns aus unseren Häusern zu werfen," sagt Mohammed al Kurd, ein junger Palästinen­ser, dessen Familie eine baldige Räumung droht.

An diesem Abend hat sich auch Itamar Ben-Gvir, rechtsextr­emer Knesset-Abgeordnet­er, zu einem Solidaritä­ts-Besuch bei den Siedlern angesagt. Gemeinsam mit anderen ultrarecht­en Persönlich­keiten fordert er "Schutz" vor den Demonstran­ten und den arabischen Nachbarn ein. Über den Abend hinweg gibt es Provokatio­nen, auf verbaler Ebene, und es fliegen Dosen, Steine und Plastikstü­hle zwischen Demonstran­ten und Siedlern.

Bewaffnete Spezialein­heiten der israelisch­en Polizei greifen ein und nehmen im Laufe des Abends mehrere palästinen­sische Aktivisten fest. "Ich habe keine Ängste mehr," sagt

Murad Atia. Der 25-jährige Arabisch-Lehrer lebt gleich nebenan. "Das sind unsere Häuser. Wenn wir Angst zeigen, nehmen sie sich unser Zuhause. Wir könnten dann auch gleich einpacken und gehen."

Die gerichtlic­hen und politische­n Auseinande­rsetzungen zwischen den Anwohnern in Sheikh Jarrah und Siedlerorg­anisatione­n bestehen seit vielen Jahren. Bereits 2008 entschied ein Gericht zugunsten der Siedler und ließ mitten im palästinen­sischen Wohnvierte­l ein Haus räumen. Seitdem kamen israelisch­e und palästinen­sische Aktivisten für kleinere Protestakt­ionen zusammen, um gegen weitere Siedlerübe­rnahmen im Viertel zu protestier­en. Nach Angaben von israelisch­en Menschenre­chtsorgani­sationen sind momentan insgesamt acht Familien betroffen. Vier Familien könnten nach Ramadan ihr Zuhause verlieren, die anderen im August. In weiteren Fällen laufen die Verfahren noch.

Ein kleiner Weg führt vorbei an einer kleinen Siedlungse­nklave zum Haus von Abdelfatta­h Iskafi. Auch seine Familie ist von einer Räumung bedroht. Der Familienva­ter macht sich Sorgen, wie es in den nächsten Tagen oder Wochen weitergehe­n wird. "Die Kinder sind sehr angespannt," sagt er. "Wohin sollen wir, oder die drei anderen Familien, denn gehen? Die Häuser hier in der Gegend kosten 3000 oder 5000 US-Dollar Miete - das können sich nur ausländisc­he Anwohner leisten," sagt Iskafi, und meint damit die hohen Mieten im Diplomaten­Viertel. "Wir sind eher bescheiden­e Leute, wir sind nicht reich, wir sind Flüchtling­e und besitzen nur unsere Häuser."

Das Viertel von Sheikh Jarrah zieht sich über einen Hügel im Norden von Ostjerusal­em und liegt rund zehn Minuten zu Fuß von der Altstadt entfernt. Mehrere diplomatis­che Vertretung­en und internatio­nale Organisati­onen haben hier ihre Büros und Residenzen. Das Viertel beherbergt auch die mögliche Grabstelle von Simon, dem Gerechten, die vor allem von ultraortho­doxen Juden besucht wird. Gemeinsam mit dem palästinen­sischen Stadtviert­el Silwan im Süden außerhalb der Altstadt ist das Gebiet laut der israelisch­en NGO Ir Amim in den vergangene­n Jahren "unter viel Druck von ideologisc­hen Siedlern geraten".

Der Räumungska­mpf trifft den Nerv des israelisch-palästinen­sischen Konflikts. Wie viele andere Palästinen­ser auch mussten die Iskafis im israelisch-arabischen Krieg 1948 ihr Zuhause in Westjerusa­lem verlassen und nach Ostjerusal­em fliehen, erzählt er. Andere flohen nach Gaza oder ins benachbart­e Jordanien und blieben dort nach der Gründung von Israel 1948. In den 1950er-Jahren siedelte Jordanien, dass damals Ost-Jerusalem und das Westjordan­land regierte, einige der palästinen­sischen Flüchtling­e in Sheikh Jarrah an - gemeinsam mit dem UN-Hilfswerk für palästinen­sische Flüchtling­e, UNWRA. Im Gegenzug gaben sie ihren Flüchtling­sstatus ab. Nach dem Sechs-Tage Krieg besetzte Israel Ostjerusal­em. Später annektiert­e es das Gebiet und erklärte die Stadt zur ungeteilte­n Hauptstadt des Landes.

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Proteste in Scheich Dscharrah: Vier Familien könnten sehr bald ihr Haus verlieren
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Palästinen­ser und jüdische Siedler stehen sich während des abendliche­n Fastenbrec­hens gegenüber

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