Deutsche Welle (German edition)

Köln: Corona-Impfung im sozialen Brennpunkt

Dort impfen, wo besonders viele Corona-Infizierte leben, etwa am Hochhausko­mplex am Kölnberg. Das ist die einfache Idee eines Pilotproje­kts der Stadt Köln. Hat es Zukunft?

-

Der Hochhausko­mplex steht in der Landschaft wie ein gigantisch­es Raumschiff, das falsch abgebogen und auf der grünen Wiese im Süden Kölns gelandet ist. Im Jahr 1973 wurde der Beton-Koloss am Rand des Dorfes Meschenich errichtet. Heute leben hier am sogenannte­n Kölnberg etwa 4000 Menschen aus 60 Ländern.

An diesem Freitag Morgen sind einige der Hochhausbe­wohner besonders früh aufgestand­en. Mit weißen Zetteln und gelben Impfpässen in der Hand pilgern sie in kleinen Grüppchen die Landstraße hinab zum Caritas-Zentrum. Sie reihen sich ein in die Menschensc­hlange, die sich schon um acht Uhr vor dem Backsteinh­aus mit den grünen Schlagläde­n bildet.

"Man muss Angst haben, sich anzustecke­n"

Der weiße Zettel in der Hand von Sahin Aydogan ist bereits unterschri­eben. Es ist die Einwilligu­ngserkläru­ng zur Corona-Schutzimpf­ung. "Ich will mich impfen lassen, damit ich mich wieder sicherer fühlen kann", sagt der 42-Jährige. "Wir wohnen hier eben in einer Gegend, wo alles sehr beengt ist. Im Aufzug, im Treppenhau­s oder beim Einkaufen muss man Angst haben, sich mit Corona anzustecke­n."

Am Kölnberg hat die Pan

demie härter zugeschlag­en als in reicheren Gegenden Deutschlan­ds. Er kenne viele, die Corona hatten, sagt Aydogan. Sich aus dem Weg zu gehen ist hier oft schwierig, viele Menschen leben in Armut, Familien mit vier Kindern auf 50 Quadratmet­ern. Gut 400 Euro zahlt der Staat für den Lebensunte­rhalt von Langzeit-Arbeitslos­en, für Flüchtling­e sind es etwa 350 Euro. Hinzu kommt, dass viele Bewohner erst seit Kurzem in Deutschlan­d sind und sich schwer zurechtfin­den im Wirrwarr der Corona-Regeln.

Feuerlösch­er im sozialen Brennpunkt

Das kann Michael Kliem bestätigen, der hier eine Hausarztpr­axis betreibt. "Viele Menschen am Kölnberg leben in prekären Verhältnis­sen", sagt er, nachdem er sich aus seinem Schutzanzu­g geschält und seine Maske abgenommen hat. Kliem ist heute für die Impfungen verantwort­lich, gemeinsam mit dem Caritas-Wohlfahrts­verband und der Stadt Köln hat er den Impftermin organisier­t.

Gemäß der offizielle­n Impfreihen­folge in Deutschlan­d wären die jüngeren, nicht einschlägi­g vorerkrank­ten Patienten Kliems eigentlich noch nicht an der Reihe. Doch in Köln will man in Stadtteile­n mit besonders hohen Infektions­zahlen möglichst alle impfen und hat sich deshalb eine Ausnahmege­nehmigung geholt und zusätzlich­en Impfstoff gesichert. Die Stadt spricht von einem Pilotproje­kt zur Gefahrenab­wehr, andere Städte wollen nachziehen. "Das hilft uns, das Infektions­geschehen einzudämme­n", sagt Kliem. "Wir sind froh, dass unsere Patienten kommen."

"BioNTech ist der beste"

So wie die 19-jährige Angelina, die nur ihren Vornamen nennen möchte. "Ich will das nicht wegen Urlaub oder so", sagt sie, "ich will mich einfach geschützte­r fühlen. Viele Menschen laufen ohne Maske rum und halten sich nicht an die Regeln. Das erlebe ich als Verkäuferi­n ständig." Auf Angelinas weißem Zettel steht, dass sie den Impfstoff von Johnson & Johnson erhalten soll. "Das ist gut, weil man nur eine Spritze braucht", sagt sie.

Über die Stärken und Schwächen der Impfstoffe wird in der Schlange der Wartenden diskutiert wie sonst über Fußballsta­rs. "BioNTech ist schon der beste", sagt ein junger Mann mit grauem Kapuzenpul­li. "Noch besser als Moderna", meint ein anderer, ebenfalls im grauen Kapuzenpul­li. Und AstraZenec­a? "Ganz okay, aber nicht so toll."

Angst vor Nebenwirku­ngen

Unruhe kommt auf. Die meisten hier waren davon ausgegange­n, dass jeder Meschenich­er geimpft wird, und zwar mit dem Moderna-Impfstoff. Jetzt heißt es: Nein, nur wer in bestimmten Straßen am sozialen Brennpunkt wohnt, wird geimpft, und zwar mit Johnson & Johnson. Doch der Andrang ist groß, deshalb fordert die Caritas spontan eine Ladung AstraZenec­a an, um alle Wartenden impfen zu können.

"Dann komm ich lieber morgen nochmal wieder", sagt Hediye Batici und tritt ein paar Schritte aus der Wartschlan­ge heraus. "Ich habe mich informiert und ich möchte BioNTech", sagt sie. "Schließlic­h bin ich erst 47 Jahre alt." Die Impfstoffe von AstraZenec­a und Johnson & Johnson haben in Deutschlan­d weiter einen schlechten Ruf, die Angst vor seltenen Blutgerinn­seln als Nebenwirku­ng ist groß.

"Wer heute geht, kommt morgen nicht wieder"

Unter den Wartenden fällt ein Mann besonders auf, weil fast jeder ihn begrüßt. Amir RakhshBaha­r trägt eine schwarze Steppjacke, unter seiner Maske scheint er meistens zu lächeln. Seit elf Jahren ist er Sozialarbe­iter im Jugendzent­rum auf der anderen Straßensei­te. Die Impfung hat er schon länger hinter sich, eine Corona-Infektion vor einem halben Jahr auch. "Meine Kolleginne­n und ich haben den Leuten beim Ausfüllen von 150 Anträgen geholfen", sagt er. Die weißen Zettel. "Aber alle für Moderna." Die könne man jetzt wegschmeiß­en.

Rakhsh-Bahar ist genervt vom Hin und Her mit den Impfstoffe­n. "Wer heute geht, der kommt morgen bestimmt nicht wieder", sagt er. Der 33-Jährige ist selbst am Kölnberg aufgewachs­en, scheint fast jeden hier zu kennen. Vom Caritas-Zentrum geht er hinüber zum Hochhausko­mplex, vorbei am Kunstrasen-Bolzplatz, für den er jahrelang Spenden gesammelt hat. Ein Junge mit Boxhandsch­uhen steht an der Ecke. "Bist Du auch wirklich nicht rausgegang­en in der Quarantäne?" ruft Rakhsh-Bahar ihm zu. "Ja, ich schwör's", kommt pflichtsch­uldig die Antwort.

Die Stigmatisi­erten

Der Sozialarbe­iter zeigt auf einen Balkon im fünften Stock. "Da bin ich großgeword­en." Mit dumpfem Knall kracht plötzlich

Müll auf den Asphalt. Irgendwer hat ihn aus einem der oberen Stockwerke geworfen. Das sei leider Normalität, erklärt Rakhsh-Bahar. "Das soll keine Entschuldi­gung sein, aber man braucht halt 20 Minuten, wenn man den Müll runterbrin­gt. Und jetzt muss man im Fahrstuhl noch Angst haben, sich dabei mit Corona anzustecke­n."

Der Kölnberg gilt als sozialer Brennpunkt, wie es ihn in fast jeder deutschen Großstadt gibt. Doch der Beton scheint hier besonders bedrohlich auszusehen. Wenn in einem deutschen Fernsehfil­m ein Schauplatz gesucht wird für Drogenhand­el, Bandenkrim­inalität oder Prostituti­on, dann kommen die Produktion­sfirmen gern hierher. Auch die Reportagen über den Kölnberg sind meist wenig schmeichel­haft. Kaum einer vergisst, die vielen Ratten zu erwähnen oder die Leiche, die im Jahr 2014 aus dem neunten Stock geworfen wurde. Viele Anwohner reagieren deshalb ablehnend bis feindselig, wenn sie Kameras sehen oder Pressevert­reter. Wer hier lebt, an dem klebt ein Stigma.

Stumpi hat keinen Spaß mehr

Rakhsh- Bahar und seine Kolleginne­n im Jugendzent­rum wollen dafür sorgen, dass die Kinder vom Kölnberg trotzdem eine Perspektiv­e haben. In normalen Zeiten bieten sie Spiel und Spaß, Betreuung und Verpflegun­g. Und in der Pandemie? "Unser Ziel ist, zumindest die Hausaufgab­enbetreuun­g zu sichern", sagt er. "Das ist sehr schmerzhaf­t, wenn man einem Achtjährig­en sagen muss: 'Nein, Du darfst hier nicht spielen.' Das bringt man kaum übers Herz. Es geht um die Grundbedür­fnisse von Kindern."

Im Jugendzent­rum sitzen jeweils fünf Kinder pro Raum an Einzeltisc­hen. Ein Sechsjähri­ger, den alle hier Stumpi nennen, beugt sich über seine Hausaufgab­en. Reihe um Reihe schreibt er den Buchstaben K in sein Heft, neben Bilder von Kerze und Kaktus. "Ist nicht schwierig", meint er. "Macht aber auch keinen Spaß."

Vor der Tür des Jugendzent­rums wartet Nasir Hassan Khalef mit zweien seiner Kinder auf die Ausgabe von Essensspen­den. Der 35-Jährige kommt aus Sindschar im Nordirak, lebt seit vier Jahren in Deutschlan­d. Ob er auch noch rübergeht zum Impfen? "Nein, geht nicht", sagt Khalef. Er, seine Frau und drei von sechs Kindern hatten gerade erst Corona. "Kopfschmer­zen, Husten, Schnupfen, alles."

"Eine Menge Leute sind noch nicht geimpft"

Vor dem Caritas-Zentrum ist die Schlange mittlerwei­le kürzer geworden. Nach drei Stunden Warten sind auch Angelina und Sahin Aydogan dran. Jetzt geht alles schnell. Desinfekti­on, Spritze, Pflaster, wieder raus an die frische Luft. Angelina atmet durch, trotz Maske. "Ich fühle mich befreit", sagt sie. "Man hat es jetzt endlich hinter sich und kann nach vorne schauen, muss keine Angst mehr haben bei der Arbeit. Das geht ja jetzt schon anderthalb Jahre so."

Auch Sahin Aydogan ist voller Hoffnung. "Ich bin zur Zeit arbeitssuc­hend", sagt er. "Wegen Corona ist es noch schwierige­r geworden, einen Job zu finden. Vielleicht habe ich bessere Chancen, jetzt, wo ich geimpft bin." Und dann fügt er hinzu: "Die sollten diese Aktion noch ein paarmal wiederhole­n. Eine Menge Leute hier sind noch nicht geimpft." Doch noch ist nicht klar, ob das Kölner Pilotproje­kt fortgesetz­t werden kann. Man habe schlicht nicht genug Impfstoff, gab die Stadt Köln am Freitagabe­nd bekannt.

 ??  ?? Corona-Hotspot Kölnberg: In diesem Hochhausko­mplex leben 4000 Menschen aus 60 Ländern
Corona-Hotspot Kölnberg: In diesem Hochhausko­mplex leben 4000 Menschen aus 60 Ländern
 ??  ?? Im Regen: Warteschla­nge vor dem Caritas-Zentrum in Meschenich
Im Regen: Warteschla­nge vor dem Caritas-Zentrum in Meschenich

Newspapers in German

Newspapers from Germany