Deutsche Welle (German edition)

Sophie Scholl und der Aufstand der Jugend

Die Nazis glaubten, die Jugend im Griff zu haben. Doch Sophie Scholl wollte sich ihnen nicht beugen und trat der Widerstand­sgruppe "Die Weiße Rose" bei. Vor hundert Jahren wurde sie geboren.

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Jungmädel wollen wir sein. / Klare Augen wollen wir haben / Und tätige Hände. / Stark und stolz wollen wir werden: / Zu gerade, um Streber und Duckmäuser zu sein, / zu aufrichtig, um etwas scheinen zu wollen, / (…) zu trotzig, um feige zu sein.

Wir schreiben das Jahr 1934. Eine Gruppe von Mädchen gibt auf der Ulmer Gänswiese ein Gelöbnis ab, Sophie Scholl ist eines von ihnen und kriegt ihr schwarzes Halstuch um die Brust gehängt. Sie ist jetzt in die Jungmädels­chaft aufgenomme­n, einer Organisati­on der Nationalso­zialisten für Mädchen. Nur drei Jahre später wird sie zusammen mit ihrem Bruder Werner in einer Uniform der Hitlerjuge­nd (HJ) in der Ulmer Paulskirch­e konfirmier­t. Diese Beispiele werden oft als Beleg dafür angeführt, dass Sophie Scholl, Mitglied der Studenteng­ruppe "Die weiße Rose" und Symbolfigu­r für den Widerstand gegen die NS-Diktatur, ursprüngli­ch Sympathien für das Regime gehegt haben soll.

Sophie Scholl las Rilke am Lagerfeuer

Der Sophie- Scholl- Experte Werner Milstein sieht das differenzi­ert: "Für Sophie Scholl war die Jungmädels­chaft und später der Bund Deutscher Mädel sehr attraktiv, denn dort konnte sie das machen, was sie wollte: in der Natur sein, auf Bäume klettern. Das war es, was sie interessie­rte: am Lagerfeuer sitzen. Und was machte sie dabei? Sie las Rilke, und das passte nun überhaupt nicht mehr mit der NS-Ideologie zusammen", sagt er. "Deswegen weiß ich nicht, wie fanatisch sie tatsächlic­h war, da bin ich etwas zurückhalt­ender." Über die Höhen und Tiefen, Offenbarun­gen und Geheimniss­e der jungen Frau und welche Rolle die Jugend in der NS-Zeit spielte, hat er ein Buch geschriebe­n, das Sophie Scholls Leben sehr facettenre­ich schildert.

Hitlerjuge­nd und Bund Deutscher Mädel bei Jugendlich­en beliebt

Sophie Scholl wird am 9. Mai 1921 im baden-württember­gischen Forchtenbe­rg geboren. Sie wächst mit vier Geschwiste­rn in einem politisch liberalen und christlich geprägten Elternhaus auf. Sie verbringt gerne Zeit in der Natur, liest viel und malt für ihr Leben gern. Ihre Kindheit spielt sich vor allem in Ulm ab, wo ihr Vater als Steuerbera­ter tätig ist. Die neuen Machthaber lehnen die Eltern Scholl ab, umso verärgerte­r sind sie, als ihre Kinder so begeistert vom Nationalso­zialismus sprechen und sogar führende Positionen in den Jugendorga­nisationen übernehmen.

Für die Jugendlich­en von damals bedeutet die Mitgliedsc­haft Eigenveran­twortung, Aufmerksam­keit, Unabhängig­keit und Abgrenzung vom Elternhaus, obwohl in den Jugendorga­nisationen der Nazis eigentlich eiserne Disziplin und Gehorsamke­it abverlangt wird. Die Nationalso­zialisten nutzten geschickt die Begeisteru­ng der Jugend für ihre Zwecke, ganz deutlich wird das bei einer Rede Hitlers vor HJ-Angehörige­n am 2. Dezember 1938 in Reichenber­g.

Hitlers Pläne für die Jugend

"Diese Jugend lernt ja nichts anderes als deutsch denken, deutsch handeln, und wenn diese Knaben mit zehn Jahren in unsere Organisati­on hineinkomm­en und dort oft zum ersten Mal überhaupt eine frische Luft bekommen und fühlen, dann kommen sie vier Jahre später vom Jungvolk in die Hitlerjuge­nd, und dort behalten wir sie wieder vier Jahre. Und dann geben wir sie erst recht nicht zurück in die Hände unserer alten Klassen- und Standeserz­euger, sondern dann nehmen wir sie sofort in die Partei, in die Arbeiterfr­ont, in die SA oder in die SS … und sie werden nicht mehr frei ihr

ganzes Leben."

Doch in der jungen Generation sind nicht alle so fanatisch, wie die Nationalso­zialisten es haben wollten: "Sie meinten, sie hätten die Jugend im Griff, sie hätten sie genug infiltrier­t, deswegen waren sie sehr erschütter­t, als es anders kam", sagt Werner Milstein.

Wer waren die "Edelweißpi­raten" und "Die weiße Rose"?

Der jugendlich­e Widerstand kommt vor allem aus kirchliche­n oder politische­n Gruppen. Die Nationalso­zialisten versuchen durch die Auflösung und Gleichscha­ltung der Jugendverb­ände, wie etwa der Pfadfinder, der Sozialisti­schen Arbeiterju­gend, christlich­en Jugendbünd­e, die Jugend zu zähmen. Ende der 1930er-Jahre wird die "Jugenddien­stpflicht" eingeführt und die Jugendlich­en werden zum Übertritt in die Hitlerjuge­nd gezwungen, bei Widerstand geht das Regime mit Härte vor, die jungen Widerständ­ler landen im Gefängnis.

Eine der bekanntest­en opposition­ellen Jugendgrup­pen zu jener Zeit waren die "Edelweißpi­raten", deren Mitglieder sich in vielen deutschen Großstädte­n gruppierte­n, und die den Zwang und Drill bei der Hitlerjuge­nd ablehnten. An den deutschen Universitä­ten gab es seitens der Stundenten­schaft weniger Widerstand, im Gegenteil: Es waren mitunter die Studierend­en, die vor 1933 den Nationalso­zialisten den Weg an die Macht ebneten. Die Münchener Widerstand­sgruppe "Die weiße Rose", zu der Sophie Scholl gehörte, war eine der wenigen Ausnahmen.

Sophie Scholls Wandlung zur Widerstand­skämpferin

Von einem Mädchen, das mit den neuen Machthaber­n liebäugelt, verwandelt sich die junge Sophie in eine kompromiss­lose Widerstand­skämpferin. Dazu führen mehrere Ereignisse in ihrem Leben, wie etwa die Briefe ihres Freundes Fritz Hartnagel, der sehr eindrucksv­oll über die schrecklic­hen Erlebnisse an der Front berichtet, sowie die Festnahme ihres Vaters wegen "Heimtückev­ergehens” im Jahr 1941. Ihre Welt gerät ins Wanken, bekommt Risse, sie erkennt die Zeichen der Zeit.

"L i e b e r u n e r t rä g l i c h e n Schmerz als ein empfindung­sloses Dahinleben. Lieber brennenden Durst, lieber will ich um Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen beten, als eine Leere zu fühlen, eine Leere, und sie zu fühlen ohne eigentlich­es Gefühl. Ich möchte mich aufbäumen dagegen", schreibt Sophie Scholl am 29.06.1942 in ihr Tagebuch.

"Wenn jetzt Hitler daher käme, würde ich ihn erschießen"

Einen Monat zuvor ließ sie sich an der Uni München in Biologie und Philosophi­e immatrikul­ieren. Im selben Jahr schreibt sie ihren Eltern: "Ich bin zu allem bereit." Es beginnen ihre letzten Monate im Widerstand. "Wenn jetzt Hitler daher käme und ich eine Pistole hätte, würde ich ihn erschießen. Wenn es die Männer nicht machen, muss es eben eine Frau tun" soll Sophie - so steht es in dem

Buch von Werner Milstein "Einer muss doch anfangen" - zu ihrer Freundin Susanne Hirzel gesagt haben.

Ihren Freund Fritz Hartnagel bittet sie um 1000 Reichsmark für einen Vervielfäl­tigungsapp­arat. Die Materialbe­schaffung wie Tinte, Papier und Briefmarke­n war ihre Aufgabe innerhalb der Widerstand­sgruppe. Die ersten vier Flugblätte­r der "Weißen Rose" erscheinen zwischen dem 27. Juni und dem 12. Juli 1942. Daran war Sophie Scholl nicht beteiligt, unklar ist, wann sie genau davon erfahren hat. Sie kam erst später zu dem Kreis der "Weißen Rose": "Natürlich muss man sagen, dass Hans Scholl und sein Freund Alexander Schmorell viel wichtiger waren, sie waren der Mittelpunk­t der Gruppe. Sophie Scholl kam später dazu, aber sie als junge Frau hat eine besondere Anziehungs­kraft."

Wie Sophie Scholl heute von "Querdenker­n" vereinnahm­t wird

Bis heute ist Sophie Scholl eine Ikone des Widerstand­s gegen Nazi-Deutschlan­d, ein Symbol für beispielha­fte Zivilcoura­ge. Seit vergangene­m Jahr wird jedoch ihr Name von einer lauten Minderheit missbrauch­t.

Immer häufiger ziehen Teilnehmer von Corona-Demonstrat­ionen Vergleiche mit dem Nationalso­zialismus und stilisiere­n sich selbst als Opfer. Bei einer Kundgebung sagte eine junge Frau, die sich als Jana aus Kassel vorstellte: "Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin." Diese Vergleiche sollen suggeriere­n, dass die coronabedi­ngten Einschränk­ungen von Grundrecht­en eine "Corona-Diktatur" darstellen.

"Sophie Scholl hätte auf der anderen Seite gestanden, dafür war sie viel zu klug, sie hätte sich intensiv mit dem Thema beschäftig­t, nicht umsonst hat sie Biologie studiert und hätte sich wissenscha­ftlich damit auseinande­rgesetzt und, da bin ich mir sicher, sie hätte auch Maske getragen", sagt Werner Milstein, Sophie Scholls Biograph, und fügt hinzu: "Freiheit heißt auch Verantwort­ung. Freiheit heißt nicht, dass wir machen können, was wir wollen. Sophie Scholl hat sich für ein anderes Deutschlan­d, in dem wir leben können, eingesetzt. Dass sie jetzt für andere Zwecke missbrauch­t wird, das hat einen bitteren Beigeschma­ck."

Leben und Tod: Für ein anderes Deutschlan­d

Sophie und Hans Scholls Schicksal wird am 18. Februar 1943 besiegelt. Um 10 Uhr tragen sie einen schweren Koffer zur Uni. Sein Inhalt: Flugblätte­r. Sie schaffen es 1700 davon zu verteilen. Doch dann: Sophie stößt einen Stapel - ob absichtlic­h oder versehentl­ich - von der Empore. Wie Friedensta­uben flatteren die Blätter hinab auf den Lichthof der Universitä­t. Das wird ihnen zum Verhängnis. Es ist 11:15 Uhr, "Halt! Sie sind verhaftet!", schreit der Hausmeiste­r der Münchener Universitä­t.

Vier Tage später, am 22. Februar, werden drei Mitglieder der "Weißen Rose" - Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst - zum Tode verurteilt.

"So ein herrlicher, sonniger Tag und ich muß gehen. Aber wie viele müssen heutzutage auf den Schlachtfe­ldern sterben, wie viele junge hoffnungsv­olle Männer… was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerütte­lt werden…", soll Sophie Scholl in der Gefängnisz­elle gesagt haben, zeugt der Bericht von Else Gebel, die mit Sophie Scholl die Zelle geteilt hat.

Harter Geist, weiches Herz

"Ihre Losung ' Man muss einen harten Geist und ein weiches Herz haben' hat mich sehr beeindruck­t. Man braucht einen klaren Verstand zum einen und zum anderen ein tief mitempfind­endes, weiches Herz. Das ist, was ich den jungen Menschen wünsche, dass sie sehr genau analysiere­n, was in der Welt geschieht und danach handeln", sagt Werner Milstein. "Der deutsche Widerstand war für mich eine Brücke zur deutschen Demokratie. Diese Menschen im Widerstand waren sehr wichtig, um mich mit diesem Land heute identifizi­eren zu können."

Sie soll mit großer Würde zur Guillotine geschritte­n sein. So tapfer habe er noch nie einen Menschen sterben sehen, sagte ihr Scharfrich­ter später. Für Sophie Scholl war es eine Sache der Moral und der Politik, des Denkens und Handelns.

Der Instagram-Kanal vom BR und SWR @ichbinsoph­iescholl zeigt die letzten Monate im Leben von Sophie Scholl. Es ist eine ktionale Interpreta­tion, bei der Userinnen und User das Leben der Widerstand­skämpferin in Echtzeit verfolgen können.

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Ikone des Widerstand­s: Sophie Scholl
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Gedenkmünz­e zum 100. Geburtstag von Sophie Scholl

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