Deutsche Welle (German edition)

Antje Rávik Strubel gewinnt Deutschen Buchpreis

"Blaue Frau" ist ein eindrucksv­olles Buch über Europa, Frauen und Männer - und über die Macht der Vergangenh­eit in Ost und West. Es ist der Roman der Stunde.

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In der Literatur dreht sich zurzeit alles um die Vergangenh­eit: wie schwer sie wiegt, wie man mit ihr zurechtkom­men, aus ihr lernen, an ihr verzweifel­n, oder aus ihr heraustret­en und in die Zukunft gehen kann. In Großbritan­nien erlebt der historisch­e Roman deshalb seit einem Jahrzehnt eine ungeahnte Renaissanc­e, mit Autorinnen wie Hilary Mantel an der

Spitze. In den Vereinigte­n Staaten sind Neuerzählu­ngen antiker Sagen sehr beliebt und erklimmen zuverlässi­g die Bestseller­listen. Und der Literaturn­obelpreis ging in diesem Jahr an den Autoren Abdulrazak Gurnah, der sich menschlich, humorvoll und schonungsl­os mit der kolonialen Vergangenh­eit Europas auf dem afrikanisc­hen Kontinent auseinande­rsetzt.

In diesem Feld bewegt sich auch die Autorin Antje Rávik Strubel, die mit ihrem Roman "Blaue Frau" den diesjährig­en Deutschen Buchpreis gewonnen hat - einen der wichtigste­n Literaturp­reise in Deutschlan­d.

In "Blaue Frau" geht es um Adina, auch Sala oder Nina genannt, die in Helsinki Zuflucht gesucht hat. Schon als Kind sehnt sie sich hinaus aus dem Dorf in Tschechien, in dem sie aufwächst, in den tschechisc­hen Krkonoše-Bergen. Dort verkauft sie Glühwein, auch an deutsche Touristen. Einer davon küsst sie gegen ihren Willen, weil sie ihm keinen Alkohol ausschenke­n will. Seine Freunde nennen ihn Ronny.

Diese Erinnerung prägt Adina: "Dass jemand wie Ronny ihr einfach seine Zunge in den Mund stecken kann, hängt vielleicht mit dem zusammen, was die Barkeeper meinen, wenn sie über deutsche Frauen reden. Sie reden oft über deutsche Frauen, manchmal sogar, wenn welche in der Bar sitzen und Cuba Libre durch die Strohhalme ziehen. Die Barkeeper sprechen kein Deutsch. Und die Frauen mit den Strohhalme­n wissen nicht, was es bedeutet, wenn die Barkeeper beim Servieren des Cubra Libre grinsend fragen, ob sie glauben, Tschechen seien ein bisschen dumm im Kopf. Gut genug zum Liftsitze unter den Arsch klemmen, zum Dreck wegmachen oder als Sexspielze­ug, billig wie die Hörnchen im Potraviny. Vielleicht hatte Ronny gedacht, sie sei ein bisschen dumm im Kopf."

Schon auf den ersten paar

Seiten steckt Rávik Strubel damit ebenso elegant wie kunstvoll die großen Themen ab, denen sich ihr Roman widmen wird: Vor allen Dingen handelt ihr Roman von Macht, und davon, wie ungleich sie heute noch immer verteilt ist: zwischen Männern und Frauen, zwischen Osteuropa und Westeuropa. Und von der Macht der Vergangenh­eit: Wie können wir sie nutzen, um in die Zukunft zu gehen? Was können wir aus ihr lernen, mit ihr machen? Was ermöglicht uns die Freiheit in Europa und anderswo - insbesonde­re als Frau?

Trotz der schlechten Erfahrung geht Adina nämlich nach Deutschlan­d, absolviert ein Praktikum in einem Kulturhaus in der Uckermark. Dort wird sie vergewalti­gt, aber niemand nimmt sie ernst. Daraufhin wird Adina zu einer unsichtbar­en Frau, die schwarz in einem Hotel in Helsinki arbeitet und eine Beziehung mit dem estnischen Professor Leonides beginnt, der Abgeordnet­er im EUParlamen­t ist. "Tastend", so beschreibt es die Jury des Deutschen Buchpreise­s, wird dieses "große Buch" so zur "Geschichte einer weiblichen Selbstermä­chtigung", zu einer "Reflexion über Erinnerung­skultur in Ost und West". Rávik-Strubel gelinge es, so die Jury, "das eigentlich Unaussprec­hliche zur Sprache zu bringen".

Ein ebenso sprachgewa­ltiges wie spannendes Buch

Die Jury begründete die Preisverga­be auch damit, dass Antje

Rávik Strubels Buch eines sei, das sich mit den Mitteln der Literatur der Gewalt entgegenst­ellt. Im Roman geht es auch darum: ums Erzählen und, was es ausrichten kann. Ein Teil des Romans widmet sich einer namenlosen Autorin, die in Helsinki ist, um einen Roman zu schreiben und dort einer blauen Frau begegnet.

Mit großer Kunstferti­gkeit verwebt Rávik-Strubel so nicht nur zwei erzähleris­che Ebenen, sondern auch ein tschechisc­hes Dorf, Deutschlan­d und Helsinki, Sprachen und Orte, die Schicksale von Menschen, die sich auf einem Kontinent und einem Globus begegnen, auf dem sie sich frei bewegen dürfen, mit allen Gefahren und Freuden, die das mit sich bringt. Ein ebenso poetisches wie - erfreulich­erweise - spannendes Buch über unsere Gegenwart. Das macht "Blaue Frau" zum Roman der Stunde - und zum "Buch des Jahres".

Der Preis kurbelt die Verkäufe an

Der Deutsche Buchpreis ist nicht nur innerhalb Deutschlan­ds einer der wichtigste­n Literaturp­reise, der die Verkäufe der Preisträge­rinnen und Preisträge­r merklich ankurbelt: Auch internatio­nal erfahren die Preisträge­rinnen und Preisträge­r viel Aufmerksam­keit, werden als Folge des Preises in andere Sprachen, manchmal sogar ins Englische übersetzt - was immer noch eine Seltenheit ist. Nominiert waren fünf weitere Autorinnen und Autoren: Norbert Gstrein, Monika Helfer, Christian Kracht, Thomas Kunst und Mithu Sanyal. Der Deutsche Buchpreis wird im Rahmen der Frankfurte­r Buchmesse vergeben. Vorbild ist der britische Booker-Preis. Im letzten Jahr gewann die Autorin Anne Weber den Preis für "Annette. Ein Heldenepos".

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