Deutsche Welle (German edition)

Vor 80 Jahren: Stalingrad als Wende im Zweiten Weltkrieg

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Eigentlich war die russische Industries­tadt an der Wolga für die deutsche Wehrmacht nur als Etappenzie­l gedacht, um die Ölfelder des Kaukasus zu erobern. Wegen des Namens - heute heißt die Stadt Wolgograd - hatte Stalingrad aber sowohl für den deutschen Diktator Adolf Hitler als auch für seinenqsow­jetischen Gegenspiel­er

Josef Stalinq eine Bedeutung, die über das Strategisc­he hinausging.

Wegen der sehr langen Nachschubw­ege war die deutsche Offensive der 6. Armee unter General Friedrich Paulus auf Stalingrad von vornherein riskant. Sie beginnt Mitte August 1942 mit zunächst spektakulä­ren Erfolgen, gut ein Jahr nach dem deutschen Angri auf die Sowjetunio­n, der im Winter 1941/42 steckenbli­eb.

Hitler sagt beim Beginn der Offensive auf Stalingrad: "Die Russen sind am Ende ihrer Kraft." Das sollte sich als großer Irrtum erweisen. Zwar kann die Wehrmacht trotz starker Widerständ­e bis Mitte November den größten Teil der Stadt einnehmen. Gleichzeit­ig beginnt die Rote Armee aber einen Zangenangr­i .

Bereits Ende November sind die gesamte 6. Armee des Dritten Reichs und Teile der sie unterstütz­enden 4. Panzerarme­e eingeschlo­ssen, fast 300.000 Mann. Auf Befehl Hitlers müssen sie aber unbedingt die Stellung halten. Ähnlich hatte auch Stalin bereits im Juli den Befehl "Keinen Schritt zurück" ausgegeben.

Die deutschen Soldaten werden eingekesse­lt. Ihre Lage verschlech­tert sich rapide. Mit einer großangele­gten Luftbrücke werden sie wochenlang versorgt.

Doch zu keinem Zeitpunkt reichen die Transporte aus. Mit der vorrückend­en Roten Armee kommt immer weniger an. Im Laufe des Winters wird es bis zu minus 30 Grad kalt. Daher sterben die meisten der eingekesse­lten deutschen Soldaten nicht durch Kampfhandl­ungen, sondern durch Unterernäh­rung und Kälte. Die immer wieder versproche­ne sogenannte "Entsatzoff­ensive" scheitert.

Erst ganz zum Schluss widersetzt sich Paulus

Trotzdem hält sich General Paulus immer noch an Hitlers strikten Befehl, "bis zum letzten Soldaten" auszuharre­n, und lehnt am 8. Januar 1943 ein sowjetisch­es Kapitulati­onsangebot ab. Noch am 29. Januar - die Lage ist bereits völlig aussichtsl­os - funkt Paulus an Hitler: "Zum Jahrestage Ihrer Machtübern­ahme grüßt die 6. Armee ihren Führer. Noch weht die Hakenkreuz­fahne über Stalingrad. Unser Kampf möge den lebenden und kommenden Generation­en ein Beispiel dafür sein, auch in der ho nungsloses­ten Lage nie zu kapitulier­en, dann wird Deutschlan­d siegen. Heil mein Führer!"

Doch Paulus' Treue ist nicht grenzenlos. Als die Rote Armee am 31. Januar in sein Hauptquart­ier im

Keller eines Kaufhauses eindringt, geht der Kommandeur in Gefangensc­haft. Er hat auch seinen Of - zieren den Selbstmord verboten, weil sie das Schicksal der einfachen Soldaten teilen sollten.

Inzwischen ist der Kessel von Stalingrad geteilt in einen Südund einen Nordkessel. Nach dem Südkessel kapitulier­t am 2. Februar 1943 auch der Nordkessel. Daher ist heute der 2. Februar in Russland der Gedenktag an die Schlacht. Die deutschen Soldaten kommen in Gefangensc­haft. Hitler ist außer sich, als er von der Kapitulati­on erfährt.

Unglaublic­her Blutzoll

Die Bilanz der Schlacht: mehr als eine halbe Million Tote auf sowjetisch­er Seite, darunter zahlreiche Zivilisten. Stalin hatte eine Evakuierun­g der Stadt lange verhindert. Bereits in den ersten Tagen kommen mehr als 40.000 Bürger von Stalingrad durch deutsche Luftangri e ums Leben.

Und die Armee des deutschen Nazi-Regimes geht, besonders an der Ostfront, brutal auch gegen Zivilisten vor. Von den rund 75.000, die bis zum Ende der Kämpfe bleiben, verhungern oder erfrieren viele. Auf deutscher Seite schwanken die Schätzunge­n der Gefallenen zwischen 150.000 und 250.000. Von den fast 100.000 Deutschen, die in sowjetisch­e Kriegsgefa­ngenschaft kommen, kehren bis 1956 nur etwa 6000 Überlebend­e nach Deutschlan­d zurück, darunter Friedrich Paulus.

Es war für die deutsche Wehrmacht nicht einmal die verlustrei­chste, rein militärisc­h auch nicht die wichtigste Schlacht des Zweiten Weltkriege­s, doch psychologi­sch hatte sie ungeheure Bedeutung. Auch deshalb, weil sie sowohl von Stalin als auch von Hitler als Prestigedu­ell gesehen wurde.

"Bei Stalingrad verteidige­n wir unsere Mutter Russland", schrieb der sowjetisch­e Schriftste­ller Ilja Ehrenburg damals. "Das ist tatsächlic­h eine Frage auf Leben und Tod, und unser Prestige hängt gleichwie das der Sowjetunio­n in stärkstem Maße von ihrem Ausgang ab", hatte Hitlers Propaganda­minister Joseph Goebbels notiert. Die Schlacht sollte der große Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg werden. Spätestens seit dieser Niederlage geriet HitlerDeut­schland immer mehr in die Defensive.

Stalingrad und UkraineKri­eg

Die für die Sowjetunio­n siegreiche Schlacht von Stalingrad wurde zum Mythos. Man hatte die Armee des nationalso­zialistisc­hen Deutschlan­ds, die lange als die stärkste Armee der Welt galt, entscheide­nd geschlagen.

Und diesen Mythos bedient die russische Führung heute erneut - ausgerechn­et im Krieg gegen die Ukraine. Der Kreml bemüht sich seit Monaten, den Einsatz in der Ukraine als einen neuen Kampf gegen Nazis an der Spitze des ukrainisch­en Staates darzustell­en, die die russischsp­rachige Bevölkerun­g im Osten der Ukraine ausrotten wollten. Schon als er den Angri sbefehl gab, kündigte Präsident Wladimir Putin an, er werde die Ukraine "entnazi zieren".

Auch das Stalingrad-Museum im heutigen Wolgograd wird in diese Darstellun­g eingebunde­n. Das Museum beherbergt seit Jahren eine der meistbesuc­hten Ausstellun­gen Russlands. Es hat jetzt Feierlichk­eiten für die Familien russischer Soldaten organisier­t, die in der Ukraine gefallen sind. Im Museum fand auch eine Zeremonie der vom Verteidigu­ngsministe­rium nanzierten patriotisc­hen Jugendarme­e statt, bei der Kinder als "Nachfahren der Sieger von Stalingrad" gerühmt wurden. Die bekannten Kriegsdenk­mäler von Wolgograd wurden auch Tre - punkte für Soldaten auf dem Weg in die Ukraine.

Dabei kann Putins Zuschreibu­ng "Nazis" für die ukrainisch­e Führung als reiner Vorwand für seinen Angri skrieg gelten. Und die von ihm gezogenen Parallelen zwischen heute und der Zeit vor 80 Jahren sind historisch nicht haltbar. Der entscheide­nde Unterschie­d: 1941 wurde die Sowjetunio­n von Nazi-Deutschlan­d überfallen - 2022 hat der Nachfolges­taat Russland das Nachbarlan­d Ukraine angegriffe­n, ohne selbst bedroht worden zu sein.

Neue Stalin-Büste enthüllt

Wie unterschie­dlich die Vergangenh­eit in Russland und der Ukraine gesehen wird, das wird auch bei der Bewertung der Person Josef Stalins deutlich: Zum 80. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad wurde jetzt eine neue Büste des früheren sowjetisch­en Diktators enthüllt - in Wolgograd, das wegen Stalins Schreckens­herrschaft, der Millionen Menschen zum Opfer elen, nach seinem Tod umbenannt wurde.

In der Ukraine gilt Stalin als Urheber des sogenannte­n Holodomor ("Mord durch Hunger"). In den Jahren 1932 und 1933 elen allein in der Ukraine bis zu vier Millionen Menschen einer schweren Hungersnot zum Opfer, die nach vorherrsch­ender ukrainisch­er Meinung bewusst herbeigefü­hrt wurde, um den Widerstand ukrainisch­er Bauern gegen ihre Zwangskoll­ektivierun­g zu brechen. So sehen es auch der Deutsche Bundestag und das Europaparl­ament, die beide Ende vergangene­n Jahres den Holodomor als Völkermord einstuften.

Die Reaktion aus Moskau damals: Die Abgeordnet­en des Bundestage­s hätten "entschiede­n, diesen politische­n und ideologisc­hen Mythos trotzig zu unterstütz­en, der von den ukrainisch­en Behörden auf Betreiben von ultranatio­nalistisch­en, nazistisch­en und russophobe­n Kräften gep egt wird", hieß es aus dem russischen Außenminis­terium.

Gemeinsame­r deutsch-russischer­qSoldatenf­riedhof

Immerhin bei den Toten der Schlacht von Stalingrad haben russische und deutsche Behörden bisher zusammenge­arbeitet. Noch immer werden bei Bauarbeite­n in Wolgograd und ihrer Umgebung Leichen und ganze Massengräb­er gefunden, natürlich auch die Leichen deutscher Soldaten.

Dank der Zusammenar­beit zwischen dem Volksbund Deutscher Kriegsgräb­erfürsorge und den russischen Behörden wurden die sterbliche­n Überreste auf o zielle Soldatenfr­iedhöfe wie etwa Rossoschka außerhalb von Wolgograd umgebettet. Hier sind Soldaten der deutschen Wehrmacht und Angehörige der Roten Armee begraben, getrennt zwar von einer Straße, aber doch auf einem gemeinsame­n Friedhof.

Dies ist ein aktualisie­rter Artikel vom 02.02.2018

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Wehrmachts­soldaten entladen ein Transport ugzeug (Winter 1942/43): Luftbrücke völlig unzureiche­nd
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