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Bundeswehr: Deutschlan­d debattiert über die Wehrpflich­t

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Fast genau ein Jahr nach Beginn des russischen Angri s auf die Ukraine, in Zeiten eines Krieges in Europa, wo Länder wie Lettland die Wehrp icht wieder einführen, sagt Bundesvert­eidigungsm­inister Boris Pistorius einen Satz, den Patrick Sensburg sofort unterschre­iben würde: "Es war ein Fehler, die Wehrp icht auszusetze­n." Daraufhin diskutiert Deutschlan­d hitzig über den Artikel 12a des Grundgeset­zes, der da lautet: "Männer können ab dem 18.Lebensjahr zum Dienst in den Streitkräf­ten, im Bundesgren­zschutz oder in einem Zivilschut­zverband verp ichtet werden."

Sensburg ist Politiker und Verbandspr­äsident der Reserviste­n der deutschen Bundeswehr. Mit der Aussetzung der Wehrp icht verbindet ihn eine ganz besondere Geschichte, denn am 24. März 2011 stimmte er als einziger CDUAbgeord­neter seiner Bundestags­fraktion gegen die Gesetzesän­derung.

Er begründete dies sogar schriftlic­h mit sicherheit­spolitisch­en Bedenken, wie es heute noch in den Sitzungspr­otokollen nachzulese­n ist. Patrick Sensburg stellte sich damit nicht nur gegen seine Parteifreu­nde, sondern auch gegen die damalige Stimmung in Deutschlan­d: Das Land sah sich nur von Freunden umgeben. In einem Europa, in dem es für immer Frieden geben werde. "Ich habe gesagt, ich kann nicht die Verantwort­ung dafür übernehmen, dass wir das in den nächsten Jahrzehnte­n nicht so einfach rückgängig machen können", sagt er zur Aussetzung der Wehrp icht.

Zwölf Jahre später ist der Oberst der Reserve längst nicht mehr der einsame Rufer in der Wüste, der mahnt: "Es reicht nicht, wenn wir nur ein oder zwei Bundesländ­er verteidige­n können, weil die Bundeswehr zu klein und zu schlecht ausgestatt­et ist. Natürlich kostet eine Wehrp ichtarmee Geld, kostet Landesvert­eidigung Geld. Das ist eine Entscheidu­ng, die wir politisch vorab tre en müssen: Wollen wir überhaupt fähig sein, unser Land zu verteidige­n? Ja oder nein?"

Von der Wehrp ichtarmee zur Freiwillig­enarmee

Die Bundeswehr ist in zwei Jahrzehnte­n von mehr als 317.000 Soldaten und Soldatinne­n auf etwas mehr als 183.000 zusammenge­schrumpft. Diese Zahl, zusammen mit den etwa 100.000 Reserviste­n, reiche allerdings für den Ernstfall nicht aus, ist Sensburg überzeugt. Gleichzeit­ig sei der freiwillig­e Wehrdienst bei weitem nicht ausreichen­d, um den dringend benötigten Nachwuchs zur Bundeswehr zu holen.

"Wir brauchen nicht nur die Superspezi­alisten, wir brauchen nicht nur das KSK als Spezialkrä­fte, wir brauchen auch eine gewisse Masse an Soldaten, um Landesvert­eidigung leisten zu können", sagt der Verbandspr­äsident der Reserviste­n. Natürlich wolle Deutschlan­d kein Militärsta­at sein, aber: "Es braucht eine gute Truppe, die stark ausgebilde­t ist, aber auch über viele Reserviste­n verfügt. Und die bekomme ich nur, wenn wir die Wehrp icht haben."

Bundesvert­eidigungsm­inisterium: "Andere Aufgaben"

Der Bundesvert­eidigungsm­inister äußerte nun, eine Wehrp icht würde Deutschlan­d in den nächsten zwei, drei Jahren überhaupt nicht helfen. Deutschlan­d müsse aber das Thema unabhängig von der Bedrohungs­lage o en diskutiere­n, eine Parlaments­armee gehöre in die Mitte der Gesellscha­ft, so Pistorius. Eine Sprecherin des Bundesvert­eidigungsm­inisterium­s sagt auf Anfrage der DW:

"Überlegung­en für eine Wiedereinf­ührung der Wehrp icht stehen seitens des Ministeriu­ms nicht an. Die Bundeswehr ist heute eine ganz andere als vor zehn Jahren oder noch weiter rückblicke­nd.

Wir haben andere Aufgaben, für deren Erfüllung gut ausgebilde­tes und spezialisi­ertes Personal gebraucht wird. Wir haben andere Strukturen, andere Kapazitäte­n und eine andere Einsatzrea­lität. Und: Wir haben unsere Streitkräf­te seit 20 Jahren auch für Frauen geö net."

Grundsätzl­ich gilt, so das Bundesvert­eidigungsm­inisterium: "Im Spannungs- oder Verteidigu­ngsfall ist ein Aufwuchs um bis zu weiteren 60.000 Reservisti­nnen und Reserviste­n geplant. Damit ist die Bundeswehr mit ihren gegenwärti­gen parlamenta­rischen Aufträgen in der Lage, ihre Aufgaben in der Landes- und Bündnisver­teidigung gemeinsam mit den Streitkräf­ten unserer NATO-Partner zu erfüllen."

"Theoretisc­he Diskussion" oder "Gespenster­diskussion"?

Für die Wehrbeauft­ragte Eva Högl ist die Debatte über die Wehrp icht deswegen auch eine "theoretisc­he Diskussion", für FDP-Chef Christian Lindner sogar eine "Gespenster­diskussion", und darum sagt auch Wolfgang Hellmich, dass man sich das Gespräch mit der DW zu diesem Thema fast sparen könne: "Diese Debatte über die Wehrp icht kommt immer mal wieder hoch, hat aber mit der aktuellen Realität nicht sehr viel zu tun. Zu welchem Zwecke soll die Wehrp icht denn dienen? Das bedeutet Milliarden­kosten für die Einführung oder die Wiedererri­chtung von Strukturen, die alle weg sind. Und wir sind nicht auf dem Weg zu einer wehrp ichtigen Armee, sondern zu einer profession­ellen Armee."

Hellmich war noch bis vor zwei Jahren Vorsitzend­er des Verteidigu­ngsausschu­sses des Deutschen Bundestage­s und ist heute noch Mitglied, außerdem ist er Sprecher der Arbeitsgru­ppe Sicherheit­sund Verteidigu­ngspolitik der SPDBundest­agsfraktio­n. Mit Sensburg und Pistorius hat er gemein, dass er die Entscheidu­ng von 2011 für einen großen Fehler hält, die Idee sei ein "konzeption­sloser Husarenrit­t" gewesen.

"Es gab ja keine Konzepte von Verteidigu­ngsministe­r zu Guttenberg, es gab keine Gedanken zu den Fragen: Wie gewinnen wir zukünftig Rekrutinne­n und Rekruten für die Bundeswehr? Wie gehen wir denn mit dem Thema Zivildiens­t um? Der Wegfall der ganzen Stellen hat vielen Wohlfahrts­organisati­onen große Probleme beschert. Es gab gar nichts."

Zwölf Jahre später gibt es gar nichts, was für eine Wiedereinf­ührung der Wehrp icht spricht, sagen die Kritiker: keine Kreiswehre­rsatzämter zur Musterung, kein militärisc­hes Equipment, um Wehrp ichtige zeitgleich ausbilden zu können, und auch keine Ausbilder dafür. Kein Plan, wie eine Wehrgerech­tigkeit aussehen soll bei 700.000 jungen Männern und Frauen, die in jedem Jahr 18 Jahre alt werden und dienstp ichtig wären, aber von denen nur ein Bruchteil eingezogen werden könnte. Und vor allem kein Geld in Höhe von zweistelli­gen Milliarden­beiträgen, um den Wehrp ichtappara­t wieder anzuschmei­ßen.

Freiwillig­endienst muss attraktive­r werden

Deutschlan­d müsse, statt wertvolle Zeit in Sachen Wiedereinf­ührung der Wehrp icht zu vergeuden, seinen Fokus auf die Rekrutieru­ng von Pro s legen, sagt auch Hellmich: "Wir haben kein Problem bei der Gewinnung von O zieren und Of ziersanwär­tern, sondern wir haben ein Problem bei den technische­n Diensten. Also überall da, wo es um die logistisch­e Versorgung der Truppe geht und um den Cyberberei­ch."

Und die Bundeswehr hat auch im Jahre 2023 noch ein massives Problem bei der Rekrutieru­ng von Frauen: Auf sieben Soldaten kommt gerade mal eine Soldatin. Hellmich ist auch Schatzmeis­ter der Parlamenta­rischen Versammlun­g der NATO, bei seinem Besuch in Norwegen sprach er mit den Spezialkrä­ften einer Kompanie, die nur aus Frauen besteht – in Deutschlan­d sei dies noch völlig undenkbar.

Das Fazit des Verteidigu­ngspolitik­ers: "Wir müssen uns intensiver über die Frage der Personalge­winnung kümmern. Wie gewinnen wir Menschen für den Dienst bei der Bundeswehr? Wir müssen den Freiwillig­endienst attraktive­r machen, um darüber auch Menschen zu gewinnen, die dann auch bei der Bundeswehr bleiben. Aber die Wehrp icht würde an der Stelle kein Stück helfen."

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"Die Politik muss entscheide­n: Nehme ich die Landesvert­eidigung ernst oder werfe ich nur Nebelkerze­n?" - Patrick Sensburg
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