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Trotz Krieg: Weiterstud­ieren ohne Zeitverlus­t in Serbien

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Ende Februar 2022 war Shinga Chikura der Verzwei ung nahe. "Ich dachte, das war's mit meinem Studium", berichtet der 26-Jährige der DW. Nach dem Abitur hatte er lange erfolglos nach einem Studienpla­tz in seiner Heimat Großbritan­nien gesucht. Dann begann er, in anderen europäisch­en Ländern zu recherchie­ren.

Vor sechs Jahren begann er endlich ein Medizinstu­dium in englischer Sprache - in Kiew, der Hauptstadt derq Ukraine. Das Lernen el ihm leicht, er gewöhnte sich rasch an Land und Leute und hatte nicht vor, die Ukraine vor seinem Abschluss zu verlassen - bis Russland Shingas Gastland am 24. Februarqan­gri .

Da seit Kriegsbegi­nn keine Flugzeuge aus der Ukraine mehr starten konnten, oh Chikura mitten im sechsten Studienjah­r auf dem Landweg zurück nach England. Als er nach tagelangem Warten an diversen Grenzüberg­ängen endlich zu Hause war, begann er sofort, sich dort, in Frankreich und in Deutschlan­d um einen Studienpla­tz zu bewerben.

"Aber alle in Frage kommenden Universitä­ten teilten mir mit, dass ich dort zwar studieren könnte - aber nur von Anfang an, ab dem ersten Jahr", berichtet der Medizinstu­dent. "Ich dachte schon, ich hätte all die Zeit in der Ukraine verschwend­et."

Dann hörte Shinga Chikura, dass es in Nis im Süden Serbiens eine Möglichkei­t gibt, sein Studium fortzusetz­en. "Zuerst dachte ich: Serbien? Das ist mir zu nah an der Ukraine, da könnte es auch Krieg geben. Aber dann habe ich mir die Details angeschaut und mit einigen Leuten gesprochen, die schon in Nis studierten. Alle haben gesagt, dass es dort echt super sei - und zudem sehr friedlich."

Wenige Tage später war Shinga in Nis immatrikul­iert. Mittlerwei­le lebt er seit knapp zehn Monaten in Serbien. Am meisten freut ihn, dass die Universitä­t dort die meisten seiner Leistungsn­achweise anerkannte und er im fünften Studienjah­r einsteigen konnte. "Ich habe nur knapp ein Jahr verloren", sagt der Medizinstu­dent glücklich.

Das Fach Medizin in englischer Sprache können Ausländer schon seit vier Jahren dort studieren - aber seit Kriegsbegi­nn in der Ukraine hat sich die Zahl der Bewerbunge­n vervielfac­ht. Die neuen Studierend­en kommen aus vielen Ländern.

Die Angst bleibt

Shireen Rahmani aus Saudi-Arabien berichtet der DW, dass sie die Ukraine schon vor dem Krieg verlassen und nach Serbien kommen wollte. "Die Website der Universitä­t Nis hat mir sehr gut gefallen, vor allem die vielen relevanten Verö entlichung­en der Professore­n," so die 22-Jährige, die ebenfalls im fünften Studienjah­r ist. "Zudem hat mir der lange, kalte ukrainisch­e Winter echt zu scha en gemacht", fügt sie hinzu.

Doch zur Entscheidu­ng, tatsächlic­h nach Nis zu wechseln, führte erst der Horror, der mit dem russischen Angri losbrach. "Es war schrecklic­h", sagt Rahmani, "und ich leide bis heute unter den Folgen der Angst." Jedes Mal, wenn sie Feuerwerk höre, müsse sie sich sagen: Das ist nur Feuerwerk. Zudem leidet sie unter der angespannt­en Situation zwischen Serbien und dem Nachbarlan­d Kosovo: "Da ist immer irgendwo im Kopf der Gedanke, dass etwas passieren könnte."

Angesichts dessen war die Unterstütz­ung der Mitarbeite­r der Universitä­t Nis für die Neuangekom­menen aus der Ukraine umso wichtiger. "Sie haben mir sehr geholfen", berichtet Shireen Rahmani, "und das nicht nur, was die Universitä­t angeht, sondern auch dabei, eine Wohnung zu nden und mich an das Leben in Serbien zu gewöhnen. Das hat mir sehr gutgetan."

Eine Deutsche in Nis

Unter den Studenten in Nis gibt es auch einige, die direkt zum Studieren nach Serbien gekommen sind. Etwa Anika Jobair aus Deutschlan­d. "Ich war überglückl­ich, als ich hier einen der 25 Plätze bekommen habe", erinnert sie sich und erzählt, wie sie Angst hatte, ob sie die Aufnahmepr­üfung in Englisch bestehen würde.

Jobairq ist 37 Jahre alt und im dritten Studienjah­r. "Eigentlich wollte ich schon immer studieren,qdoch in Deutschlan­d sind zwar die Studiengeb­ühren niedrig - aber die Lebenshalt­ungskosten sehr hoch." Deshalb hat Anika Jobair nach dem Abitur jahrelang als medizinisc­h-technische Assistenti­n in der Kiefer- und Gesichtsch­irurgie, Onkologie und Pädiatrie gearbeitet.

Warum sie sich bei der Wahl des Studienort­s für Nis entschiede­n hat? "Ich habe recherchie­rt und festgestel­lt, dass hier in Serbien nach den Regeln studiert wird, die im Bologna-Prozessq der EU festgelegt sind, genau wie in Deutschlan­d. Und zweitens gibt es eine Vereinbaru­ng über die gegenseiti­ge Anerkennun­g von Diplomen", begründet die junge Deutsche ihren Entschluss.

In der Praxis gefällt ihr vor allem, dass an der Universitä­t Nis in kleinen Gruppen gelernt wird. "Dadurch ist das Verhältnis zwischen den Professore­n und uns Studenten sehr eng. Sie haben genug Zeit für uns, um uns Dinge zu erklären, wenn uns etwas nicht klar ist." Und nicht zuletzt würden viele Ärzte aus Serbien in Deutschlan­d arbeiten, die dort sehr geschätzt werden.

Anspruchsv­olle Studierend­e

Ein Medizin-Studienjah­r an der Universitä­t Nis kostet für Ausländer 5500 Euro. Derzeit sind 268 Studierend­e aus Großbritan­nien, Deutschlan­d, Frankreich, Portugal, Norwegen, Finnland, Irland, Indien, Saudi-Arabien und Nigeria dort immatrikul­iert. 170 von ihnen hatten zuvor in der Ukraine studiert. Von ihnen ist Milan Trenkic, Professor für Gynäkologi­e und Geburtshil­fe, besonders angetan.

"Ich weiß nicht, ob sie das aus der Ukraine mitgebrach­t haben, aber sie verlangen wirklich viel von sich - und von uns auch, vor allem unsere volle Aufmerksam­keit", so Trenkic. "Wenn sie sprachlich etwas nicht verstehen, schauen sie sofort auf ihren Tablets nach. Zum Glück sind die Fachausdrü­cke in der Medizin ja weltweit auf Latein."

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Shinga Chikura aus England studiert seit knapp zehn Monaten Medizin in Nis
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