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Frankreich­s Rentenrefo­rm: Mission impossible?

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Der erste Protesttag gegen die Rentenrefo­rm der Regierung könnte ein schlechtes Omen für Präsident Emmanuel Macron sein. Mindestens 80.000 Menschen waren am 19. Januar in Paris zusammenge­kommen (siehe Artikelbil­d), landesweit waren es bis zu zwei Millionen. So viele Demonstran­ten wie seit über zehn Jahren nicht mehr. An diesem Dienstag (31.01.) gehen die Proteste weiter.

Immer wieder erklangen Gesänge wie "On est là, on est là, même si Macron ne veut pas, on est là" ("Wir sind da, auch wenn Macron das nicht will"). Denn obwohl die Regierung darauf pocht, dass die Rentenrefo­rm unbedingt nötig sei, sind viele Franzosen gegen die Pläne. Und sogar manch ein Ökonom.

Grundschul­lehrer Frank Lopes Costa war einer der Demonstran­ten an jenem Donnerstag in Paris. "Es geht hier nicht nur um die Rente - die Reform stellt das Herz unseres Gesellscha­ftssystems in Frage", sagte der 35-jährige zur DW. "Die Zeiten sind sowieso schon schwierig, auch wegen der steigenden Preise. Jetzt wollen sie uns auch noch diese Reform aufzwängen. Frankreich wird wirtschaft­lich immer liberaler, aber wir wollen das nicht." Der Anteil der Franzosen, die wie Lopes Costa gegen die Reform sind, steigt laut Umfragen - zuletzt waren es fast 70 Prozent.

Regierung hält Reform für nötig

Dabei besteht die Regierung darauf, dass die Reform dringend notwendig sei. "Wir wollen unser Umlagesyst­em bewahren. Diese Reform wird die Zukunft unserer Rente garantiere­n", sagte Premiermin­isterin Elisabeth Borne Mitte Januar vor dem Senat. Anders als andere Länder wie Deutschlan­d hat Frankreich ein reines Umlagesyst­em, ohne Elemente der privaten Vorsorge. Dabei gibt es allgemeine Rentenkass­en für Angestellt­e und Beamte und 27 Sonderkass­en, zum Beispiel für Balletttän­zer der Pariser Oper und Polizisten, die früher in Rente gehen.

Die Regierung will bis 2030 das Mindestren­tenalter von im Moment 62 auf 64 Jahre anheben. Außerdem müssten Menschen ab 2027 mindestens 43 Jahre - und nicht mehr nur 42 - gearbeitet haben, um eine volle Rente zu beziehen. In jedem Fall einen Anspruch auf den vollen Rentensatz hat man wie gehabt ab 67. Die Reform würde jenen, die besonders früh zu arbeiten angefangen haben, eine frühere Rente garantiere­n und gewisse Sonderkass­en beibehalte­n, gleichzeit­ig andere abschaffen. Macron plant auch, die Mindestren­te um etwa 100 Euro auf rund 1200 Euro im Monat anzuheben.

Wer bezahlt die BeamtenPen­sionen?

Bei ihrer Argumentat­ion stützt sich die Regierung auf einen Bericht einer von der Regierung beauftragt­en Expertenko­mmission. Demnach würden die Rentenausg­aben 2032 bis zu 14,7 Prozent des Bruttoinla­ndsprodukt­s entspreche­n und nicht mehr, wie aktuell, 13,8 Prozent. Für viele Ökonomen ist es daher richtig, am Mindestren­tenalter zu schrauben - auch angesichts der demographi­schen Entwicklun­g.

"1950 haben noch vier Arbeitende einen Rentner nanziert, 2000 waren es nur noch zwei und 2040 sind es dann 1,3. Das wird nicht mehr tragbar sein", sagt Jean-Marc Daniel, emeritiert­er Professor für Wirtschaft an der Pariser ESCP Business School. "Außerdem ist das Rentensyst­em nur deswegen nicht in den roten Zahlen, weil die Regierung unter anderem für die Pensionen der Beamten aufkommt. Würde sie das nicht tun, gäbe es ein De zit von 30 Milliarden Euro."

Ökonom Philippe Crevel, Chef der Pariser Denkschmie­de Cercle de l'Epargne, p ichtet ihm bei. "Diese Reform ist nötig, auch weil wir mehr Arbeiter brauchen, um das Wirtschaft­swachstum zu fördern", erklärt er gegenüber DW. "In Frankreich ist die Beschäftig­ungsquote unter Senioren im Vergleich zu anderen Ländern relativ niedrig. Eine Anhebung des Mindestren­tenalter würde diese automatisc­h erhöhen."

Ein verwirrend­er Expertenst­reit

Doch nicht alle Wirtschaft­swissensch­aftler stehen hinter der Reform. Und paradoxerw­eise stützen deren Gegner sich auf den gleichen Bericht der Expertenko­mmission, den auch die Regierung als Beweismitt­el aufführt. Darin steht nämlich, dass "je nach politische­n Vorlieben es absolut legitim ist, eine Rentenrefo­rm durchzufüh­ren oder auch nicht". Schließlic­h zeigten die Ergebnisse der Berechnung­en nicht, dass die Ausgaben außer Kontrolle geraten würden.

Für Michael Zemmour, Ökonom an der Universitä­t Paris Sorbonne und nicht verwandt mit dem umstritten­en Rechtsauße­nPolitiker Eric Zemmour, ist dies der Beweis, dass die Regierung die Reform aus anderen Gründen macht. "Unserem Rentensyst­em geht es gut, auch weil das Rentenalte­r durch vorherige Maßnahmen schon angehoben wurde", meint er zu DW. "Die Regierung will nur ihren Haushalt ausgleiche­n, weil sie vor allem Unternehme­n Steuererle­ichterunge­n gewährt hat - sie wollen Stück für Stück unser Sozialsyst­em auseinande­rnehmen."

Dabei seien die hohen Staatsausg­aben durchaus berechtigt, denn das französisc­he Umlagesyst­em reduziere Ungleichhe­iten. Zudem arbeiteten sowieso schon viele länger als bis zum 62. Lebensjahr, um den vollen Rentensatz zu bekommen. Frankreich­s tatsächlic­hes Rentenalte­r sei im Mittelfeld Europas, so der Wirtschaft­sexperte. "Der Bericht der Experten sagt zwar in einigen Jahren ein De zit voraus, aber das könnte man auch durch höhere Arbeitnehm­er- und Arbeitgebe­rabgaben ausgleiche­n, was vielen Franzosen lieber wäre als diese Reform", sagt Zemmour.

Stolz auf die Arbeit - und die Rente

Angesichts eines solchen Dissens wüssten die Franzosen nun kaum, was sie denken sollen, sagt die auf die Arbeitswel­t spezialisi­erte Soziologin Danièle Linhart. "Die Experten in den Medien überschütt­en uns mit Beispielen und Analysen, von denen man kaum etwas versteht", meint die Forschungs­direktorin Emeritus am ö entlichen Institut CNRS zu DW. "Die Menschen sehen, dass das Fazit einer Analyse von der Ideologie des Experten abhängt. Hier geht es darum, in welcher Gesellscha­ft wir leben wollen - einer marktorien­tierten, in der das Recht das Stärkeren gilt, oder einer, die Ungleichhe­iten abfedert."

Dabei reagiere man hierzuland­e auf das Thema Rentenrefo­rm besonders emp ndlich. "Die Franzosen haben eine ganz besondere Beziehung zum Thema Arbeit, die in der Zeit der französisc­hen Revolution begründet liegt", erklärt sie. "Diese hat etabliert, dass man nur als freier Bürger seine Arbeitskra­ft verkaufen kann. Arbeit wurde so zum Symbol des Klassenkam­pfs. Für das Recht, in einem gewissen Alter in Rente zu gehen, hat man lange gekämpft." Und dieses Recht wollen die Franzosen nicht einfach so aufgeben - weitere Demonstrat­ionen und Streiks sind schon geplant.

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Frankreich­s Arbeitsmin­ister Olivier Dussopt spricht auf einer PK zur Rentenrefo­rm
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