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Kreuzband gerissen, Psyche angeknacks­t

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"Ich war teilweise unausstehl­ich", erinnert sich die frühere Fußball-Nationalsp­ielerin Kim Kulig im Gespräch mit der DW. "Am schlimmste­n war, dass ich nicht mehr den Fußball hatte, den ich über alles liebte. Es hat mir Spaß gemacht, täglich zum Training zu gehen, meine Mannschaft­skolleginn­en zu sehen und einfach eine gute Zeit zu haben. Und das war auf einmal weg. Plötzlich konnte ich nicht mehr im Team arbeiten, sondern war auf mich gestellt und musste ganz von vorne beginnen."

Im Viertel nale der Heim-WM 2011 gegen Japan hatte sich Kulig, die damals als aufgehende­r Stern im deutschen Fußball galt, das Knie verdreht. Die Folge: Kreuzbandr­iss, monatelang­e Rehabilita­tion. Doch das war erst der Beginn ihrer Leidenszei­t. Drei weitere Knieverlet­zungen folgten innerhalb der nächsten vier Jahre. 2015 warf Kulig schließlic­h das Handtuch und beendete ihre Karriere - mit gerade einmal 25 Jahren, als Sportinval­idin.

Die jeweils monatelang­en Reha-Aufenthalt­e seien mental sehr belastend gewesen, sagt Kulig, die heute als Co-Trainerin bei den "Wöl nnen" arbeitet, dem Serienmeis­ter und Bundesliga-Spitzenrei­ter VfL Wolfsburg. Sie habe damals vor allem mit ihrer Ungeduld klarkommen müssen, so die 32-Jährige: "Ich war ein hohes Trainingsp­ensum gewohnt. Es war wie eine Sucht, immer ans Leistungsl­imit zu gehen. Und dann wirst du plötzlich ausgebrems­t und musst lernen, allenfalls kleine Fortschrit­te zu machen."

Psychologi­sche Unterstütz­ung erhielt die Fußballeri­n während der Reha nicht, sie kümmerte sich jedoch auch nicht aktiv darum. "Ich habe das Ganze damals mit mir selbst ausgemacht und mit meiner Familie", sagt Kulig. "Ich habe nicht den Weg zum Psychologe­n gewählt. Wenn ich im Nachhinein re ektiert darauf schaue, war dies nicht die richtige Entscheidu­ng."

Ein Monat Fehlzeit pro Bundesliga-Saison

Schaut man sich die Statistik an, dann ist jede Fußballeri­n und jeder Fußballer gut beraten, sich auf Verletzung­en einzustell­en, auch auf schwere. Die Verwaltung­sberufsgen­ossenschaf­t (VBG) gibt alljährlic­h einen Sportrepor­t über die Anzahl und Schwere von Verletzung­en in den beiden höchsten deutschen Männer-Ligen der großen Mannschaft­ssportarte­n Fußball, Handball, Basketball und Eishockey heraus. Nach dem letzten vorgelegte­n VBG-Report für 2021 war die Verletzung­sgefahr im Fußball am höchsten: Im Schnitt kamen auf jeden Pro der 1. und 2. Bundesliga in einer Saison 2,5 Verletzung­en. Vier von fünf Spielern waren betroffen, die Fehltage summierten sich im Durchschni­tt auf 31 pro Spieler. Gut 30 Prozent der Ausfallzei­ten ent elen dabei auf Knieverlet­zungen.

Wer sich etwa - wie damals Kulig oder aktuell Nationalsp­ielerin Giulia Gwinn - wegen eines Kreuzbandr­isses monatelang durch die Rehabilita­tion kämpfen muss, wird wahrschein­lich auch mental durch einige Täler gehen müssen. "Es kann durchaus sein, dass sich aus langfristi­gen Verletzung­en auch psychologi­sche Konsequenz­en ergeben: Unsicherhe­iten, möglicherw­eise auch depressive Phasen, wenn der Heilungsve­rlauf nicht so verläuft wie erwartet", sagt Michael Kellmann, der als Professor an der Ruhr-Universitä­t Bochum den Lehr- und Forschungs­bereich Sportpsych­ologie leitet.

Zahlreiche Studien belegen, dass mentale Unterstütz­ung während einer Verletzung hilfreich ist. "Aber nicht in jeder Struktur gibt es Sportpsych­ologen", so Kellmann gegenüber der DW. "Und wenn es welche gibt, werden sie vielleicht eher für die Leistungso­ptimierung eingesetzt und nicht zwingend im Verletzung­smanagemen­t."

Eine im vergangene­n Oktober verö entlichte Umfrage unter nordamerik­anischen Sportmediz­inern, die Kreuzbandv­erletzunge­n behandelte­n, ergab, dass 95 Prozent der Befragten psychologi­sche Tests während der Rehabilita­tion als mindestens "ziemlich wichtig" einstuften. Allerdings setzten gerade einmal 35 Prozent von ihnen diese Tests auch routinemäß­ig ein. Woher kommt diese Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis?

Rückschläg­e sind eher die Regel

"Weil am ehesten in Vereinen an der Position der Sportpsych­ologen gespart wird", sagt Miriam Kohlhaas. Die 39-Jährige aus der Nähe von Düsseldorf betreut seit vergangene­m Jahr die deutsche American-Football-Nationalma­nnschaft in psychologi­schen Fragen: "Für mich gehört eine Sportpsych­ologin oder ein Sportpsych­ologe fest in den Trainersta­b einer Pro mannschaft. Mentales Training sollte so selbstvers­tändlich sein wie Athletik- oder Krafttrain­ing. Und im besten Fall wird mit den einzelnen Sportlern präventiv gearbeitet."

Schon vor der Saison sollten sich die Athleten mit möglichen Verletzung­en beschäftig­en, ndet

Kohlhaas: "Was kann schlimmste­nfalls passieren, wie möchte ich darauf reagieren? An wen wende ich mich? Wie kann ich gegensteue­rn, wenn ich weiß, dass ich in dem Moment wahrschein­lich erstmal durchdrehe?"

Dabei wartet nach dem Schock über die Verletzung möglicherw­eise eine noch größere psychische Belastung während der anschließe­nden langen Rehabilita­tion. "Eine Prognose bleibt eine Prognose und ist eben kein Verspreche­n, dass eine Spielerin oder ein Spieler sechs Monate nach dem Kreuzbandr­iss wieder spielen kann", sagt Michael Kellmann. "Rückfälle sind eher die Regel als die Ausnahme. Und dann kommt wieder die Psychologi­e ins Spiel: Sind die Sportler und die Trainer darauf vorbereite­t, dass so etwas passieren kann? Gerade wenn Leistungst­räger ausfallen, wird darauf spekuliert, dass sie möglichst bald wieder eingesetzt werden können."

In den vergangene­n Jahren, so der Wissenscha­ftler, sei zwar zunehmend der Fokus auf einen behutsamen Trainingsa­ufbau und ein langsames Heranführe­n an den Spielbetri­eb gesetzt worden. "Aber wenn es etwa im letzten Bundesliga­spiel um Abstieg oder Klassenerh­alt geht, tritt das möglicherw­eise in den Hintergrun­d."

Aus Angst falsche Bewegung

Während der Reha sei eine "realistisc­he Einschätzu­ng der Sachlage" extrem wichtig, sagt Kellmann. Sonst bestehe auch aus Sicht der Sportlerin­nen und Sportler die Gefahr, nicht das richtige Maß zu nden. Die einen wollen zu schnell zu viel und überlasten damit ihren angeschlag­enen Körper. Die anderen entwickeln Angst vor weiteren schweren Verletzung­en.

Letzteres könne zum Beispiel in der Kontaktspo­rtart American Football böse enden, sagt Miriam Kohlhaas der DW. Nur wenn ein Pro volles Vertrauen in jene Körperteil­e habe, die verletzt waren, werde er die eintrainie­rten Kontakte wieder sauber hinbekomme­n: "Wenn ich etwa mein Knie aus Angst vor einer neuerliche­n Verletzung seitlich herausdreh­e, steht möglicherw­eise meine Schulter falsch. Und dann ist die nächste Verletzung fast schon vorprogram­miert."

Michael Kellmann verweist darauf, dass sich auch Aktive, deren Vereine nicht routinemäß­ig mit Sportpsych­ologinnen oder -psychologe­n zusammenar­beiten, mentale Unterstütz­ung holen können - und das nicht nur im Verletzung­sfall, sondern bei allen psychologi­schen Problemen. So gebe es etwa die Initiative­n "MentalTale­nt" für den sportliche­n Nachwuchs sowie "MentalGest­ärkt" für Aktive im Leistungss­port. Dort würden Kontakte zu Fachleuten vermittelt.

In der Verletzung auch die Chance sehen

Kim Kuligs Mannschaft des VfL Wolfsburg arbeitet eng mit einem Sportpsych­ologen zusammen. "Das müsste eigentlich überall so sein", ndet die Co-Trainerin.

Schließlic­h gehe es nicht nur um die psychologi­sche Betreuung während Verletzung­en, sondern auch darum, die Spielerinn­en als Persönlich­keiten weiterzuen­twickeln. "Wir wissen alle, dass es nicht immer nur bergauf geht. Man muss auch mit Rückschläg­en umgehen können."

Ihre persönlich­e Verletzung­sgeschicht­e hilft Kulig heute in ihrem Umgang mit verletzten Spielerinn­en. "Ich habe mein Schicksal damals lange nicht akzeptiere­n können", sagt die Trainerin. "Heute gebe ich den Spielerinn­en mit auf den Weg: Akzeptiere es schnell, du kannst es nicht ändern. Du musst dir kleine Ziele setzen, dann bist du auch schnell wieder bei der Mannschaft."

Selbst eine langwierig­e Reha habe auch positive Seiten. "Du beschäftig­st dich täglich mit deinem Körper, arbeitest an Muskelaufb­au, Beweglichk­eit und Koordinati­on. Danach bist du ein noch besserer Sportler." Und das mit einer gereiften Persönlich­keit, ergänzt Kulig: "Du wirst gelassener und lernst dich auch als Mensch noch mal viel besser kennen. Meine vier Jahre Leidenszei­t haben mich total gefordert, im Nachhinein aber auch total gestärkt."

 ?? ?? Kim Kulig hatte in ihren Verletzung­sphasen keinen Sportpsych­ologen: "Ich habe es mit mir selbst ausgemacht"
Kim Kulig hatte in ihren Verletzung­sphasen keinen Sportpsych­ologen: "Ich habe es mit mir selbst ausgemacht"

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