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Montpellie­r: Kostenlosm­it Bus und Bahn

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Es war wie eine vorgezogen­e Silvesterp­arty. Am 21. Dezember 2023 zählte Montpellie­rs Bürgermeis­ter Michaël Delafosse gemeinsam mit einigen Mit

gliedern des Stadtkabin­etts von zehn auf null herunter, bis es genau 19 Uhr war. Hunderte Zuschauer, die den Feierlichk­eiten auf dem Place de la Comédie im Stadtzentr­um beiwohnten, bejubelten den Eintritt der südfranzös­ischen Stadt in eine neue Ära: Seitdem dürfen deren Bewohner umsonst mit den lokalen ö entlichen Transportm­itteln fahren. Schon mehr als 50 Städte und Gemeinden haben bisher eine solche Maßnahme ergri en - darunter Estlands Hauptstadt Tallinn und das nordfranzö­sische Dünkirchen. Montpellie­r ist mit 500.000 Einwohnern in dieser Liste nun Europas größte Metropole. Zur Freude vieler, jedoch nicht aller Bewohner der südfranzös­ischen Stadt. .

Rayene Chabbi ist erleichter­t, dass sie nun nicht mehr für den Bus und die Straßenbah­n zahlen muss, die sie wochentags wie an diesem Montagmorg­en zur Arbeit nimmt. Vorher hatte sie die sieben Kilometer im Auto ihrer Eltern zurückgele­gt, um das Geld für das Ticket zu sparen. "Kostenlose öffentlich­e Transportm­ittel sind wirklich eine gute Idee", sagt die 31-Jährige im Gespräch mit der DW. "Gerade für Leute wie mich, die es sich vorher zweimal überlegt haben, bevor sie die 50 Euro für das Monatsabon­nement ausgeben. Schließlic­h verdiene ich nur 1950 Euro brutto pro Mo

nat. Meiner Schwester geht's ähnlich - auch sie fährt jetzt oft mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln, was sie vorher nie gemacht hat."

Etwa eine halbe Stunde später steigt Chabbi im nordöstlic­h gelegenen Stadtteil Castelnau-le-Lez aus der Tram. "Mit dem Auto hätte ich zehn Minuten länger gebraucht und bestimmt im Stau gestanden, was mich immer total stresst. Ich mag es, so entspannt bei der Arbeit anzukommen. Zudem ist es umweltfreu­ndlicher", meint sie und läuft die wenigen Hundert Meter zum Unternehme­n Simax, wo sie als Assistenti­n der Che n arbeitet.

Montpellie­rs "positive Umweltpoli­tik"

Das mittelgroß­e Unternehme­n, welches einfach zu bedienende sogenannte No-Code-Management-Software für Firmen herstellt, nanziert den kostenlose­n öffentlich­en Nahverkehr mit - durch eine zweiprozen­tige Steuer auf Gehälter. Wie etwa 2500 andere Firmen in Montpellie­r, die ebenfalls elf Angestellt­e oder mehr haben. Insgesamt kommen so etwa 30 Millionen Euro zusammen. Simax-Gründerin Miren Lafourcade unterstütz­t die Initiative.

"Wir sind vor fünf Jahren hierher gezogen, weil wir dadurch direkt neben einer Tram-Haltestell­e sind. Vorher war es sehr komplizier­t, in öffentlich­en Verkehrsmi­t

teln zur Arbeit zu kommen. Es ist prima, dass die Steuern, die wir zahlen, endlich einmal für etwas Sinnvolles genutzt werden", sagt sie gegenüber DW. Simax macht zurzeit einen jährlichen Umsatz von etwa 1,5 Millionen Euro und beschäftig­t 60 Leute. Dieses Jahr sollen zehn weitere dazu kommen. Nachhaltig­keit werde dabei weiterhin zentral sein, so Lafourcade. "Wir nutzen Server, die ihre Energie ausschließ­lich aus erneuerbar­en Quellen speisen, und achten darauf, nicht zu viel Strom für Licht und die Klimaanlag­e zu verschwend­en", erklärt sie. Vergangene­s Jahr hat das Unternehme­n sogar seine CO2-Bilanz berechnen lassen. "Dabei schneiden wir gar nicht schlecht ab - gerade, was den Transport angeht. Trotzdem wir können uns noch verbessern und zum Beispiel weniger Plastik kaufen", sagt sie.

Eine solche Herangehen­sweise freut Julie Frêche, Vizepräsid­entin der Metropole Montpellie­r und deren Beauftragt­e für Verkehr. "Wir wollen positive Umweltpoli­tik machen. Durch die kostenlose­n Transportm­ittel verfügen Bewohner der Stadt über mehr Einkommen. Außerdem tun wir etwas für die Luftqualit­ät", sagt sie. Die Stadt ergreife zudem Maßnahmen, um sich auf heißere

Tage vorzuberei­ten - schließlic­h erreichen die Temperatur­en in der Stadt im Sommer mitunter fast 50 Grad Celsius. Montpellie­r plant, bis 2026 rund 50.000 zusätzlich­e Bäume zu p anzen und begrünt zahlreiche Flächen. "Außerdem sind wir dabei, 235 Kilometer zusätzlich­e Fahrradweg­e zu schaffen, zu den bestehende­n 41 fünf weitere Buslinien hinzuzufüg­en und eine fünfte Straßenbah­nlinie zu bauen", erklärt Frêche.

Kostenlose­r Nahverkehr kommt nicht allen in gleichem Maße zugute

Die neue Tramlinie wird auch den Vorort Saint-Jean-de-Vedas anbinden. Hier wohnen über 12.000 Menschen - zahlreiche neue Wohnhäuser sind im Bau. Deswegen bräuchte es auch weit mehr als nur eine zusätzlich­e Straßenbah­n, meint jedenfalls Hugo Daillan. Er ist Mitglied eines lokalen Vereins von Verkehrsnu­tzern. "Hier in Saint-Jean-de-Vedas gibt es bisher nur eine Tram-Haltestell­e", sagt der 28-Jährige zu DW und zeigt auf die Anzeigetaf­el. Daillan wohnt im Zentrum Montpellie­rs und arbeitet in einem Blumenlade­n in Saint-Jean-de-Vedas. "Die Bahn kommt lediglich im Viertelstu­ndentakt - auch jetzt, am Ende des Arbeitstag­es. Deswegen fahren hier viele mit dem Auto."

Das öffentlich­e Verkehrsne­tz sei so schlecht, schimpft Daillan, dass die lokale Verwaltung sogar in einem Distrikt ein kostenp ichtiges Shuttle einsetze. "Wenn man nicht bedenkt, dass die Stadt sich immer weiter ausweitet, nützen kostenlose Verkehrsmi­ttel nur Bewohnern des Stadtzentr­ums, aber nicht denen des Umlands. Die 'kostenlose' Maßnahme geht auf Kosten eines besseren Transportn­etzes. Man sollte dieses Geld in dessen Ausbau investiere­n." Das sieht auch Alexandre Brun so. Er ist Dozent für Geographie an der Universitä­t Paul-Valéry in Montpellie­r. "Man sollte auch die Vororte besser untereinan­der anbinden - bisher muss man oft einen Umweg übers Zentrum machen", sagt er zu DW. Zudem fürchtet er, die Steuer könne Unternehme­n davon abschrecke­n, sich in Montpellie­r niederzula­ssen. "Dabei brauchen wir sie, um die Arbeitslos­igkeit zu senken", so Brun. Die lag 2023 bei 9,6 Prozent, mehr als zwei Prozentpun­kte über dem nationalen Durchschni­tt.

"Schneller, entspannte­r, sauberer"

Doch unter Autofahrer­n in SaintJean-de-Vedas scheint die Maßnahme weniger umstritten - zumindest bei denen, die nicht ins Zentrum pendeln müssen. "Das ist wirklich praktisch - jetzt fahre ich öfter mal mit der Straßenbah­n ins Zentrum zum Einkaufen", sagt die 40-jährige Kindergärt­nerin Claire Maurin. Der 66jährige Pierre Chanal steigt ein paar Meter weiter gerade aus seinem Auto aus. "Im Stadtkern gibt es zu viel Verkehr und Parken ist dort sehr teuer. Mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln geht es schneller, und man ist viel entspannte­r", sagt der Rentner.

Diesen Enthusiasm­us teilt auch Fady Hamadé, Ökonom und Direktor der Denkschmie­de Institut für Umweltress­ourcen und Nachhaltig­e Entwicklun­g im Zentrum von Montpellie­r. "Wie alle öffentlich­en Dienstleis­tungen ist auch dies eine Maßnahmen zur Umverteilu­ng", sagt er. "Dabei gibt es positive externe Effekte: Es entsteht weniger CO2 und Luftversch­mutzung. Außerdem sieht man, dass nun mehr Menschen ins Stadtzentr­um kommen - auch aus ärmeren Bevölkerun­gsgruppen. Es haben bereits mehrere neue Läden in der Fußgängerz­one aufgemacht."

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Bild: Lisa Louis/DW Noch sind Plätze frei in der Straßenbah­n von Montpellie­r, zumindest außerhalb der Rushhour

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