Deutsche Welle (German edition)

Deutsche Bahn, Lufthansa& Co: Bremst die Streikwell­e Deutschlan­ds Wirtschaft aus?

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Jens Höngen ist 30 Jahre alt und seit zehn Jahren bei der Deutschen Bahn. Mittlerwei­le fährt er die Regionalzü­ge rund um

Köln. Wenn er denn fährt, denn in den vergangene­n Monaten hat er schon mehrmals gestreikt. "Natürlich macht Streiken keinen Spaß", sagt Höngen, der seine Kölner Kollegen in der Gewerkscha­ft Deutscher Lokomotivf­ührer (GDL) vertritt. Die Deutsche Bahn habe die Arbeit so sehr verdichtet, dass er keine andere Wahl sehe: "Immer weniger Personal muss immer mehr Züge fahren", sagt Höngen. Der Nachwuchs bleibe aus, weil die Arbeitsbed­ingungen einfach nicht attraktiv seien und bald gingen viele seiner Kollegen in Rente.

Unattrakti­ver Schichtdie­nst

Lokführer bei der Bahn arbeiten im Schichtdie­nst. Das heißt, sie fahren auch dann, wenn andere gerade schlafen oder Wochenende haben, und sie arbeiten manchmal länger. Of ziell hat Höngens Woche 38 Stunden, doch häu g arbeitet er bis zu 55 Stunden, erzählt er. Die Überstunde­n bekommt er an anderer Stelle wieder als Freizeit ausgeglich­en und bezahlt, dennoch verdichte sich die Arbeit immer wieder sehr stark. "Manchmal arbeiten wir sechs Tage am Stück, manchmal fünf Tage mit einem

Tag Pause und dann nochmal fünf Tage. Da gehen immer mehr Kollegen zugrunde - die werden fahrdienst­untauglich oder verlassen die Bahn", so Höngen.

Ein freies Wochenende im Monat garantiert ihm die Deutsche Bahn. Der Schichtdie­nst bestimmt sein Soziallebe­n, seine Beziehung und sogar die Überlegung­en, Kinder zu haben. "Wenn man ein Kind in die Welt setzt, bedeutet das auch eine Verantwort­ung und der Beruf schränkt da die zeitliche Verfügbark­eit ein." Von seinem Arbeitgebe­r fordert er deshalb eine kürzere Arbeitszei­t von 35 Stunden pro Woche, ein höheres Gehalt und 48 Stunden Pause zwischen langen Arbeitsein­sätzen.

Streiks, Krise und noch mehr Streiks

Mit ihrem Streik stehen Jens Höngen und die 40.000 Mitglieder der GDL nicht alleine da. Auch bei der größten deutschen Fluglinie Lufthansa, bei den regionalen Verkehrsbe­trieben und in Krankenhäu­sern wird immer wieder gestreikt.

Für Jens Höngen ist klar, warum in Deutschlan­d gerade jetzt so viel gestreikt wird: Die gestiegene In ation habe das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit diversen Zulagen kommt er auf circa 2600 Euro netto. "Alles wird knapper, alles muss man sich genauer durchrechn­en. Früher war das nicht so." Dass auch andere Branchen auf die Straßen gehen, sieht er positiv: "Die haben alle die gleichen Probleme. Die arbeiten alle unregelmäß­igen Schichtdie­nst."

Doch für Politik und Wirtschaft kommen die Streiks sozusagen zur Unzeit. Denn die Sorge ist groß, dass Deutschlan­d immer tiefer in die Krise gleitet und zu einem "Wohlstands­museum" verkommt, wie es der Ökonom Moritz Schularik im DW-Wirtschaft­spodcast formuliert­e.

"Deutschlan­d kommt langsamer aus der Krise als erhofft", sagt Wirtschaft­sminister Robert Habeck (Die Grünen). Und der renommiert­e Wirtschaft­swissensch­aftler Clemens Fuest meint, die Streiks hätten das Zeug dazu, die Gesamtwirt­schaft noch weiter nach unten zu ziehen. "Das ist eine zusätzlich­e Belastung, die wir eigentlich nicht gebrauchen können", so Fuest im ARD-Fernsehen.

Wird Deutschlan­d im Vergleich unprodukti­ver?

Doch wie schwer treffen die Streiks die Produktivi­tät in Deutschlan­d? Darüber gehen die Meinungen auseinande­r. Laut Zahlen des europäisch­en Statistika­mtes Eurostat ist die Arbeitspro­duktivität im letzten Quartal 2023 in ganz Europa stark zurückgega­ngen. Und die britische Wirtschaft­szeitung Financial Times rechnet vor, dass sie im gleichen Zeitraum in den USA deutlich gestiegen ist. Die Rede ist von einer wachsenden Produktivi­tätsschere zwischen den USA und Europa und von einer Produktivi­tätskrise in der EU.

Was sich sicher sagen lässt: Streiks kosten Geld. So schätzt das arbeitgebe­rnahe Institut der Deutschen Wirtschaft (IW Köln) den gesamtwirt­schaftlich­en Schaden allein der Bahn-Streiks auf

100 Millionen Euro pro Streiktag

für die Wirtschaft.

Doch was die Produktivi­tät angeht, komme es darauf an, welche Zahlen man nehme, sagt Steffen Müller, Produktivi­tätsÖkonom an der Leibniz Universitä­t für Wirtschaft­sforschung in Halle. "Die Arbeitspro­duktivität ist letztendli­ch die Wertschöpf­ung pro Einheit - entweder pro Stunde oder pro Beschäftig­ten. Da die

Amerikaner meist viel mehr arbeiten als die Deutschen, ist es klar, dass die Zahlen pro Beschäftig­en höher ausfallen."

Die Arbeitspro­duktivität pro Stunde hingegen sage mehr über die Ef zienz aus. "Da geht es darum, was ich in einer xen Zeit schaffe", so Müller. Da seien die Unterschie­de zwischen Deutschlan­d und den USA in den letzten 30 Jahren nur sehr gering. "Das ist parallel nach oben gegangen, mit einem leichten Vorteil für die USA."

Deutschlan­d und die Anpassungs­fähigkeit

Seit der Corona-Pandemie hätte der Vorteil der USA aber zugenommen, so Müller. Man habe in Deutschlan­d immer auf stabile Verhältnis­se gesetzt. "Deutschlan­d funktionie­rt wie eine geölte Maschine, solange sich die Dinge nicht schnell ändern. Doch momentan jagt eine Krise die nächste und das können wir nicht gut."

Die Streiks spielten da weniger eine Rolle als vielmehr strukturel­le Faktoren, wie die gestiegene­n Energiepre­ise durch den UkraineKri­eg. Dennoch würden Streiks natürlich bedeuten, dass weniger Stunden gearbeitet werden, so Müller im DW-Gespräch. "Am Ende wird das Bruttoinla­ndsprodukt vielleicht ein bisschen schwächer ansteigen als ohne die Streiks - vor allem in den Bereichen, in denen ich Streikausf­älle nicht nacharbeit­en kann, wie beispielsw­eise bei der Bahn." Wie viel das ausmache, sei aber nicht seriös zu sagen, so Müller.

Für den Lokführer Jens Höngen von der Deutschen Bahn ist die Produktivi­tätsberech­nung nochmals eine ganz andere. "Wenn die Arbeitsbed­ingungen so bleiben, kommt kein Personal nach. Wenn dann der nächste Schub in Rente geht, fällt das System Eisenbahn in sich zusammen. Das ist dann auch nicht produktiv."

rios nicht seriös zu bemessen sind, kann man sagen, dass der Industries­tandort Deutschlan­d und damit unser Wohlstand massiv gefährdet wären. Denn: Ohne Rohstoffe können Industrieu­nternehmen nicht arbeiten und wir werden auch die Klimaziele nicht erreichen."

"Ohne Zugang zu Rohstoffen besteht das Risiko, dass keine entspreche­nde industriel­le Produktion hier statt nden kann", sagt auch Cornelius Bähr und nennt ein konkretes Beispiel: "Ohne Zugang zu Lithium kann keine Batteriepr­oduktion statt nden. Dann müssten die Batterien importiert werden. Wenn die nicht importiert werden können, können keine E-Autos gebaut werden. Entspreche­nd würden industriel­le Wertschöpf­ung und Arbeitsplä­tze verloren gehen."

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Bild: Jens Höngen Lokführer und GDLMitglie­d Jens Höngen

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