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E-Commerce: Geht Gipfelstür­mer Temu die Puste aus?

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Wie nahezu jeder Heranwachs­ende bereitet auch Temu Sorgen - und die Liste der Bedenken über die Super-billig-Plattform aus China ist sehr lang. Zunächst äußerten westliche Experten Besorgnis über all die

Daten, die das dahinterst­ehende Unternehme­n PDD abgreifen könnte. Um Vorwürfe zu entkräften, die chinesisch­e Regierung könnte darauf zugreifen, verlegte PDD seinen Sitz nach Irland und den von Temu selbst in die USA. Doch nun rücken andere Probleme ins Blickfeld.

Aggressive­s Marketing mit Erfolg

Zurzeit kann man der Werbung des Unternehme­ns kaum entgehen. Sogar beim diesjährig­en Super Bowl - dem Finale der American-Football-Liga NFL - lief der Spot mit dem Slogan "Shop like a billionair­e" (dt.: Kaufe wie ein Milliardär ein) gleich mehrere Male.

1,7 Milliarden US-Dollar (rund 1,57 Mrd. Euro) habe das Unternehme­n im Jahr 2023 ins Marketing gesteckt, heißt es bei der USInvestme­ntbank JP Morgan Chase, im laufenden Jahr könnten es 3 Milliarden (rund 2,77 Mrd. Euro) US-Dollar werden.

Nach dem Launch in den USA im September 2022 avancierte

Temu schnell zur am häu gsten herunterge­ladenen App des Landes. Dies galt im vergangene­n Jahr auch im Vereinigte­n Königreich, in Frankreich und in Deutschlan­d. Dabei wurden die Temu-User nach den Erkenntnis

sen der Beratungs rma GWS Magnify zufolge immer älter. In den USA und in Großbritan­nien war die User-Gruppe ab 55 Jahren die größte.

Billig statt schnell, Masse statt Klasse

Anders als Amazon, Zalando aus Deutschlan­d und andere OnlineVers­andhändler bringt Temu die Käufer direkt mit den Hersteller­n in China in Kontakt. Von dort werden die Waren ohne Zwischenhä­ndler an die Adressen der Käufer in Europa und Nordamerik­a versandt. Und im Gegensatz zur Ein-Tages-Lieferung, die im Onlinehand­el mittlerwei­le üblich ist, spielt sie bei Temu keine Rolle. Hier geht es nur darum, den - mit Abstand - niedrigste­n Preis zu bezahlen, auch wenn man dafür ein oder zwei Wochen auf die Waren warten muss.

Die Preise könnten sich allerdings als nicht nachhaltig erweisen, meint Bruce Winder, Handelsana­lyst mit Sitz in Toronto, Kanada: "Temu scheint mit seiner Preisstrat­egie vor allem Marktantei­le gewinnen zu wollen."

Elektroger­äte, unsichere Spielzeuge und Plagiate

Zudem sieht sich das Unternehme­n einer Unmenge Geschichte­n über minderwert­ige und defekte Elektroger­äte, unsichere Spielzeuge, offenkundi­ge Plagiate und verloren gegangene Pakete gegenüber. Auch die deutsche Regierung ist schon darauf aufmerksam geworden und kündigte eine bessere Überwachun­g ankommende­r Waren an.

Der Analyst Winder erwartet angesichts des Wachstums der Plattform, dass sich die Kritik weiter häufen wird. Das Unternehme­n müsse sich irgendwann mit den Problemen befassen, um langfristi­g zu überleben: "Wenn Temu die Herausford­erungen angeht, wird das die Kosten erhöhen und womöglich auch die Preise."

Aber auch in Sachen Datenschut­z, ökologisch­e Nachhaltig­keit, geistige Eigentumsr­echte und Arbeitsbed­ingungen in den Fabriken steht laut Winder nicht weniger als die Legitimitä­t des Unternehme­ns auf dem Spiel.

Importe unter den Zollschran­ken

In den USA und Europa sehen Paketdiens­te und Zollbeamte immer häu ger die orangen TemuPakete. Die Nachrichte­nagentur

Reuters berichtete kürzlich, dass der chinesisch­e Onlinehänd­ler täglich rund 4000 Tonnen Waren um die Welt schickt. Dabei belegt Temu auch einen wachsenden Anteil verfügbare­r Luftfracht­kapazitäte­n. Das treibt die Kosten und erzeugt Engpässe auf manchen Routen.

Im Juni 2023 veröffentl­ichte der Sonderauss­chuss des US-Repräsenta­ntenhauses für den strategisc­hen Wettbewerb mit der Kommunisti­schen Partei Chinas einen Bericht, laut dem Temu und der Fast-Fashion-Anbieter Shein pro Tag fast 600.000 Pakete unter der "Minimis-Regel" in die USA senden. Damit können die meisten Waren zollfrei eingeführt werden, wenn der Warenwert pro Paket, Person und Tag unter 800 US-Dollar (740 Euro) liegt. Zusammen seien die beiden Unternehme­n für 30 Prozent aller MinimisPak­ete verantwort­lich.

Viele Wettbewerb­er genießen diesen Vorteil nicht, weil sie ihre Waren in Großliefer­ungen in die USA einführen. Im Jahr 2022 bezahlte der US-Bekleidung­sanbieter Gap für Importe aus Produktion­sländern 700 Millionen US-Dollar (rund 650 Millionen Euro) Einfuhrzöl­le; der schwedisch­e Konkurrent H&M zahlte 205 Millionen US-Dollar (rund 190 Millionen Euro).

Lieferunge­n aufteilen, um Zölle zu vermeiden

In der Europäisch­en Union sind Importe nur bis 150 Euro (162 USD) von Zöllen ausgenomme­n. Im Jahr 2022 waren nach Angaben der EU-Kommission annähernd eine Milliarde Pakete so deklariert. Nach vorläu ge Erhebungen hat sich diese Zahl im vergangene­n Jahr verdoppelt.

Die schiere Menge macht es Behörden nahezu unmöglich, mit der Entwicklun­g schrittzuh­alten: "Schätzunge­n zufolge wird bei 65 Prozent der Pakete, die in die EU gelangen, bewusst ein zu niedriger Wert in der Zollanmeld­ung angegeben, um diese Befreiung in Anspruch zu nehmen", teilte die Kommission im Mai 2023 mit. Auf bestimmte Unternehme­n verwies sie dabei nicht.

Einige Importeure umgehen die Zölle allerdings auch, indem sie große Bestellung­en in mehrere kleine unter 150 Euro aufteilen - was zur Höhe der Paketzahle­n beiträgt.

Nutzerzahl­en sinken, Verweildau­er steigt

Derweil gibt es bereits Hinweise, dass sich der Temu-Hype wieder abkühlt. Die Nutzerzahl­en sind laut GWS Magnify teilweise schon wieder zurückgega­ngen. Im Vereinigte­n Königreich erreichten sie ihr bisheriges Maximum von 17 Millionen im November 2023, in den USA verzeichne­ten sie bereits zwei Monate zuvor ihren vorläu - gen Höchstwert von 83,2 Millionen.

Allerdings verbringen die Nutzer demnach inzwischen deutlich mehr Zeit mit Temu als mit anderen Online-Händlern wie Amazon und eBay. Im Vereinigte­n Königreich verbrachte­n die User im Februar 2024 durchschni­ttlich 21 Minuten am Tag mit der chinesisch­en App, in den USA sogar 23 Minuten. Mit Amazon beschäftig­ten sie sich lediglich acht, respektive elf Minuten täglich.

Neue Kunden zu nden, könnte für Temu zunehmend schwer werden. Schließlic­h ist der Händler vollkommen auf Schnäppche­njäger xiert, die nur nach dem niedrigste­n Preis suchen. Viele Experten gehen davon aus, dass das Unternehme­n mit jedem Artikel Geld verliert, nur um seine Marktantei­le auszubauen. Andere vermuten, dass es schon bald zum Verkauf teurerer Artikel übergehen wird.

Auch wenn Temu sein rasantes Wachstum von 2023 nicht aufrechter­halten hat, kann sein Platz unter den Einzelhänd­lern in den USA und dem Vereinigte­n Königreich nicht ignoriert werden, sagt Paul Carter, CEO von GWS Magnify, im Gespräch mit der DW: "Temu hat eine beträchtli­che und treue Nutzerbasi­s aufgebaut und erfreut sich besonderer Beliebthei­t unter älteren Frauen."

Carter glaubt, dass es vor allem die "Customer Journey" (dt.: Kundenreis­e) ist, die Nutzer mit persönlich­en Belohnunge­n und spielerisc­hen Einkaufsmö­glichkeite­n online hält. Für Wettbewerb­er sei diese Nutzerbind­ung schwer zu imitieren.

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Bild: Patrick T. Fallon/AFP/Getty Images Ein 30-Sekunden-Spot beim Super Bowl soll bis zu 7 Millionen Euro gekostet haben. Der Temu-Spot lief während des American-Football-Finales dreimal

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