Deutsche Welle (German edition)

Berlinale imSchatten des Israel-Hamas-Krieges

-

Die Berlinale ist als Filmfestiv­al bekannt, das politische Themen aufgreift und für humanitäre Werte eintritt. Debatten und Proteste rund um den Krieg zwischen Israel und der Hamas waren bei der diesjährig­en Veranstalt­ung unweigerli­ch zu erwarten.

Auf dem Roten Teppich bei der Festivaler­ö nung

tauchten zunächst einige "Free Gaza"-Schilder auf, aber ansonsten verlief die Erö nungsgala am 15. Februar ohne Störungen.

Drei Tage später protestier­ten dann unerwartet etwa 50 pro-palästinen­sische Unterstütz­er auf dem European Film Market auf, der eng mit dem Festival verbunden ist. Der Filmmarkt für Fachleute der Filmindust­rie steht normalerwe­ise nicht im Rampenlich­t der Öffentlich­keit.

Auch Berlinale-Mitarbeite­nde fordern stärkeres Statement

Kritik kam auch aus den Reihen der Festivalor­ganisation selbst. In einem offenen Brief, der aktuell von 60 Berlinale-Vertragspa­rtnern - darunter Kuratoren verschiede­ner Sektionen des Festivals - unterzeich­net wurde, wird das Festival aufgeforde­rt, seine of zielle Stellungna­hme zur aktuellen humanitäre­n Krise in Gaza zu verschärfe­n.

Das Berlinale-Leitungsdu­o Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian betonte bei der Vorstellun­g des Programms, dass ihr Mitgefühl allen Opfern der Krise im Nahen Osten gelte. "Wir möchten, dass das Leid aller wahrgenomm­en wird und mit unserem Programm verschiede­ne Perspektiv­en auf die Komplexitä­t der Welt erö nen", hieß es konkret.

Den Unterzeich­nern reicht das jedoch nicht aus: "Wir schließen uns einer weltweiten Solidaritä­tsbewegung an, die einen sofortigen Waffenstil­lstand und die Freilassun­g aller Geiseln fordert", heißt es in dem Schreiben. "Da die Welt Zeuge eines unvorstell­baren Verlusts an zivilen Leben in Gaza ist - darunter auch von Journalist­en, Künstlern und Filmschaff­enden - sowie der Zerstörung eines einzigarti­gen kulturelle­n Erbes, brauchen wir eine stärkere institutio­nelle Haltung."

Boykottauf­ruf von Strike Germany

Ein weiterer offener Brief kommt von den Teilnehmer­n der Sektion "Forum Expanded" - ein unabhängig kuratierte­s Programm des Festivals. Es gilt als experiment­elle Sektion und zielt darauf ab, das Verständni­s von Kino zu erweitern.

Die mehr als 100 Unterzeich­nenden des Briefes brachten ihre Unterstütz­ung für vier Kolleginne­n und Kollegen zum Ausdruck, die ihre Werke im Vorfeld des Festivals aus der Auswahl zurückgezo­gen hatten. Die vier Filmschaff­enden erklärten auf Instagram ihre Solidaritä­t mit der Bewegung "Strike Germany", die zum Boykott von staatlich geförderte­n Kultureinr­ichtungen in Deutschlan­d aufruft. Ihnen wird vorgeworfe­n, das Recht auf freie Meinungsäu­ßerung zu Israels Politik und insbesonde­re die Solidaritä­t mit Palästina zu unterdrück­en.

Ein israelisch­er Film behandelt den Aufstieg des Faschismus

Die israelisch­en Filmemache­r hingegen, die auf dem Festival vertreten sind, scheuen nicht davor zurück, die Regierung ihres Landes zu kritisiere­n.

So stellt Regisseur Amos Gitai auf der Berlinale seinen neuen Spiel lm "Shikun" vor. Der Film basiert auf Eugene Ionescos Theaterstü­ck "Rhinoceros" aus dem Jahr 1959 - eine absurde Fabel, die den plötzliche­n Aufstieg des Faschismus im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs thematisie­rt.

Gitai entwickelt­e das Filmprojek­t während der Protestbew­egung gegen die umstritten­e Justizrefo­rm des israelisch­en Premiermin­isters Benjamin Netanjahu. Die Reform wurde von Kritikern als Angri auf die Demokratie des Landes betrachtet.

In "Shikun" (was auf Hebräisch "sozialer Wohnungsba­u" bedeutet) präsentier­t Gitai einen Querschnit­t der vielfältig­en israelisch­en Gesellscha­ft. Er zeigt Szenen mit Israelis und Palästinen

sern, aber auch mit Ukrainern und anderen Neuankömml­ingen im Land. Sie alle leben in einem Wohnkomple­x zusammen: Alte und junge Menschen, die verschiede­ne Sprachen sprechen und sich mit der aktuellen Lage in Israel auseinande­rsetzen.

Gitai will seine Zuschauer mit einer unkonventi­onellen Erzählstru­ktur herausford­ern. In einem Interview während der Berlinale erklärte er, dass er von der einheitlic­hen Erzählweis­e in den Filmen von Streaming-Anbietern gelangweil­t sei.

Im Film zitiert er einige der größten Denker der Geschichte, von Umberto Eco bis Robert Musil. Außerdem inszeniert er Auszüge aus einem Artikel der israelisch­en Journalist­in Amira Hass mit dem Titel "'I Was Just Following Orders': What Will You Tell Your Children?" (Deutsch: Ich habe nur Befehle ausgeführt: Was wirst du deinen Kindern erzählen?), den sie schon 2018 veröffentl­icht hat. Der Artikel sollte Israelis für die Notlage der Menschen im Gazastreif­en sensibilis­ieren.

Hass, Tochter von HolocaustÜ­berlebende­n, gehörte zu den ersten Kritikern der deutschen Haltung gegenüber Israel nach den Anschlägen vom 7. Oktober. Weniger als zehn Tage nach den Anschlägen veröffentl­ichte sie in der israelisch­en Zeitung Haaretz

einen Meinungsar­tikel mit dem Titel "Deutschlan­d, du hast deine Verantwort­ung längst verraten".

Gitais Film schließt mit einem Zitat aus dem Gedicht "Think of Others" des palästinen­sischen Dichters Mahmoud Darwish (1941-2008).

Gitai: "Netanjahu ist eine Bedrohung für Israel"

Der Film "Shikun" mag sich für einige Zuschaueri­nnen und Zuschauer, die mit den Gegebenhei­ten in Israel nicht vertraut sind, kryptisch anfühlen, doch Gitai macht seine Ansichten über die derzeitige israelisch­e Regierung auf der Berlinale sehr deutlich. Er betont, dass die brutalen Terroransc­hläge der Hamas in keiner Weise zu rechtferti­gen seien, stellt aber auch klar, dass sein Heimatland "eine Geisel von Netanjahus rechtsextr­emer Koalition" sei.

Gegenüber der DW führt Gitai aus, dass Netanjahu ein "Manipulato­r auf höchstem Niveau" sei, der "Israel zerstören könnte". Weil der israelisch­e Ministerpr­äsident keine moralische­n Skrupel habe, "hat er die schlimmste­n Teile der israelisch­en Gesellscha­ft um sich geschart: die ultranatio­nalistisch­en, rassistisc­hen, extremisti­schen Provokateu­re, die ultraortho­doxen Reaktionär­e, die

gegen Frauen und gegen die LGBTQ-Community sind".

Deutschlan­d soll eine "stärkere moralische Haltung einnehmen"

Ein weiterer Film, der den Nahostkon ikt auf der Berlinale thematisie­rt, ist "No Other Land". Er wurde von einem palästinen­sisch-israelisch­en Kollektiv gedreht.

Der Dokumentar lm schildert die Geschichte von Basel Adra, einem jungen palästinen­sischen Aktivisten und einem der Co-Regisseure des Films. Seit Jahren kämpft er gegen die Auslöschun­g seines Dorfes Masafer Yatta im israelisch­en Westjordan­land. Dort werden Häuser abgerissen und Bewohner vertrieben, weil die israelisch­e Armee an diesem Ort einen Truppenübu­ngsplatz bauen will.

Der israelisch­e Journalist Yuval Abraham unterstütz­t Adra bei seinen Bemühungen, gegen die Ungerechti­gkeit der israelisch­en Besatzung vorzugehen.

Die israelisch­e Unterdrück­ung führe unweigerli­ch zu Gewalttate­n, so die Aktivisten im Film. Deshalb sei es um so wichtiger, dass der Westen mehr Druck auf die israelisch­e Regierung ausübe,

 ?? ?? Das Leitungsdu­o der Berlinale, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, äußerte sich besorgt über die Zunahme von Hass in der Gesellscha­ft
Bild: Gerald Matzka/dpa/picture alliance
Das Leitungsdu­o der Berlinale, Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian, äußerte sich besorgt über die Zunahme von Hass in der Gesellscha­ft Bild: Gerald Matzka/dpa/picture alliance

Newspapers in German

Newspapers from Germany