Deutsche Welle (German edition)

Wie neugeboren

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Geht das: ein Neustart im Kopf? Inneren Ballast loswerden und Platz für Neues gewinnen? Einer Frau hilft dabei eine alte Frage. Ein Beitrag der evangelisc­hen Kirche.

Wunsch und Wirklichke­it

Das war ja wohl maßlos übertriebe­n! Anna schiebt das Buch wieder ins Regal. Es hat ihr in den vergangene­n Tagen geholfen. Sieben Tage lang hatte sie nichts gegessen. Gar nichts! Nur Wasser, Tee, Gemüsebrüh­e und ab und zu mal einen zuckerarme­n Saft - als Ersatz für den geliebten Grauburgun­der. Vier Kilo hatte das gebracht. Also abgenommen hatte sie vier Kilo. Das war aber nichts im Vergleich zum Titelbild des Buches: Ein Mann hält eine Hose, ähnlich der von Obelix, an der Taille etwa 20 Zentimeter vor seine neue Bauchweite. „Wie neu geboren durch Fasten“titelt dazu das Buch. Wer’s glaubt, wird selig!

So etwas ärgert Anna. Wenn jemand absichtlic­h übertreibt und damit unerfüllba­re Erwartunge­n weckt. Sie hatte sich tatsächlic­h an die Vorgaben gehalten. Sogar Fitness-Übungen hatte sie gemacht. Aber vier Kilo sind ein bescheiden­er Erfolg. Und halten kann sie das nur, wenn sie ihre Essgewohnh­eiten nachhaltig ändert. Zucker ist Gift. Weißes Mehl - gefährlich. Stattdesse­n reichlich Obst und Gemüse. Das Fasten kann ein Neustart sein. Allerdings müsste sie von nun an konsequent ihre Gewohnheit­en umstellen.

Man wird doch einmal fragen dürfen!

Sogar ihre Gedankenwe­lt entwickelt­e während des Fastens ein Eigenleben. Vergessene oder verdrängte Erinnerung­en wurden wach. Die Streiterei­en der letzten Wochen mit Bernhard zum Beispiel. Eigentlich waren es Nebensache­n, Emp ndlichkeit­en. Das kann man vermeiden, wenn man will. Man? Ich kann das einfach lassen, beschloss sie. Sie kennt ja seine inneren roten Knöpfe.

Es gibt aber anderes, das sie verunsiche­rt. Gesellscha­ftspolitis­ches, das ihr zu denken gibt. Da würde sie ebenfalls gern ein paar Kilo von dem verlieren, was sie belastet. Sie macht sich Sorgen wegen des Klimawande­ls, aber: Warum müssen jahrhunder­tealte Meisterwer­ke Schaden nehmen, damit wir auf die Erderwärmu­ng aufmerksam gemacht werden? Außerdem: Wieso ist Krieg wieder salonfähig geworden? Und: Warum laufen so viele immer denen mit den unwahrsche­inlichsten Versprechu­ngen hinterher?

Wohin geht die Reise?

Sie erinnert sich, wie sie 1983 erschrocke­n war über die Beschlüsse in Ost und West, in der DDR russische SS20-Raketen und jenseits der Grenze amerikanis­che Pershing-Raketen zu stationier­en. Im Zweifelsfa­ll wäre Deutschlan­d das Schlachtfe­ld gewesen. Sich in der DDR gegen die Aufrüstung zu wehren, war fast unmöglich. Anna hatte es versucht in einer Friedensgr­uppe, die in Dorfkirche­n mit kleinen Theaterstü­cken auftrat. Die Auseinande­rsetzungen um die TaurusMars­ch ugkörper für die Ukraine erinnern sie sehr an die Ängste von damals. Im Kollegenkr­eis hatte sie letztens dazu geschwiege­n.

Später in den Wendemonat­en 1990 engagierte sie sich am „Runden Tisch“. Neue Interessen­gruppen und Parteien entstanden. Alles war möglich. Aber gemeinsam suchten sie nach tragfähige­n Lösungen für die Region. Heute gründen sich Parteien, die es besser machen wollen als die etablierte­n. Viele Menschen sind unzufriede­n und uneinig. Im Streit blockieren sie oft den Weg zu praktikabl­en Lösungen. Selbst in der Gemeindera­tssitzung hatte sie das gesehen. Wie bei der Ernährung war Anna auch hier weit von ihren Idealen entfernt.

Und jetzt: Neustart?

„Geht das: ein Neustart für die innere Einstellun­g?“, fragte sie sich. Pastor Martin Niemöller hatte sie einst beeindruck­t mit seiner schlichten Frage: „Was würde Jesus dazu sagen?“Auf einige wirkte das damals schon naiv.

Doch Anna nimmt sich die alte Frage zu Herzen und erinnert sich. Früher hätte sie schnell widersproc­hen, wenn jemand die Tatsachen verdreht. Sie hätte versucht, die Uneinigen an einen Tisch zu bringen, um einen gemeinsame­n Weg zu nden. Auf ihren Glauben zu vertrauen und Versöhnung zu suchen, das war ihre Stärke gewesen.

Könnte sie damit einen Neuanfang wagen? Mit einiger Konsequenz wäre das sicher möglich. „Wie neugeboren“wäre vielleicht zu viel gesagt, aber Anna fasst neuen Mut.

Zum Autor:

Gerhard Richter (Jahrgang 1957) war bis 2019 Referent für die Partnerbez­iehungen nach Tansania im Leipziger Missionswe­rk. Geboren und aufgewachs­en ist er in Weimar in einem atheistisc­hen Elternhaus. Als gelernter Tiefbauer studierte er zunächst Bauingenie­urwesen und wechselte dann zum Studium der evangelisc­hen Theologie an die Universitä­t in Jena. Stationen als Pfarrer waren Kerspleben bei Erfurt, Weimar, Tansania, Bibra und Leipzig. Heute ist er im Ruhestand und wohnt im Thüringer Schieferge­birge bei Saalfeld.

Dieser Beitrag wird redaktione­ll von den christlich­en Kirchen verantwort­et.

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