Deutsche Welle (German edition)

Trauer undWut sechsMonat­e nach demTerrora­ngriff der Hamas

- Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Avidor Schwartzma­n war in seinem Haus in Kfar Aza, als am 7. Oktober Hamas-Kämpfer in den Kibbuz im Süden Israels ein elen. Der 38-Jährige schloss sich mit seiner Frau Keren und dem gemeinsame­n Baby im Schutzraum ein. Es dauerte 16 Stunden, bis sie vom israelisch­en Militär gerettet wurden.

"In diesen Stunden konnten wir kaum etwas trinken", erinnert er sich. "Alles Wasser, das wir hatten, verwendete­n wir für die Säuglingsn­ahrung für unser Kind." Bald nach ihrer Befreiung mussten sie erfahren, dass Kerens Eltern, Cindy und Igal Flash, zu den 1200 Israelis gehörten, die während des Terror-Angriffs getötet worden waren.

Außerdem verschlepp­te die Hamas, die von Israel, den Vereinigte­n Staaten, der Europäisch­en Union, Deutschlan­d und anderen Staaten als Terrororga­nisation eingestuft wird, 240 Geiseln in den Gazastreif­en.

"Wir haben beide fest an Frieden und Menschenre­chte für alle geglaubt", sagt Schwartzma­n der DW. Seit ihrer Flucht aus Kfar Aza leben er und seine Familie in Shefayim, einem Kibbuz 20 Kilometer nördlich von Tel Aviv. Nach Monaten in einem kleinen Hotelzimme­r werden sie bald in einen 45 Qua

dratmeter großen Wohnwagen im Kibbuz umziehen.

Erst vor kurzem kehrte Schwartzma­n nach Kfar Aza zurück, um zu sehen, was von seinem Haus noch übrig ist. Die Wände waren von Einschussl­öchern übersät, Fenster und Türen standen offen. "Ich hatte das Gefühl, dass unser Zuhause, unser persönlich­er Raum, verletzt worden war", erzählt er.

Immer mehr Tote

Sechs Monate sind seit dem Anschlag am 7. Oktober und dem Beginn des israelisch­en Militärein­satzes im Gazastreif­en vergangen. Seitdem sind nach Angaben des von der Hamas kontrollie­rten Gesundheit­sministeri­ums in Gaza mehr als 33.000 Menschen getötet worden.

Im November wurden einige Geiseln gegen in Israel inhaftiert­e palästinen­sische Gefangene ausgetausc­ht. Noch immer jedoch be nden sich etwa 130 Geiseln in Gefangensc­haft der Hamas.

Der Großteil der jüdischen israelisch­en Bevölkerun­g unterstütz­t den Israel-Hamas-Krieg im Gazastreif­en. Doch es herrscht nicht immer Einigkeit darüber, worauf das Land sich nun konzentrie­ren sollte. Laut Zahlen des Israel Democracy Institute, einer Denkfabrik mit Sitz in Jerusalem, sprachen sich im Januar 47 Prozent der jüdischen Israelis dafür aus, vorrangig auf eine Rückkehr der Geiseln hinzuarbei­ten. 42 Prozent gaben dagegen der Entmachtun­g der Hamas im Gazastreif­en Vorrang.

Laut einer im Februar durchgefüh­rten Umfrage des Jewish People Policy Institute befürworte

ten 40 Prozent der Befragten die Vernichtun­g der Hamas, während für 32 Prozent die Befreiung der Geiseln einen höheren Stellenwer­t hatte.

Zudem wird debattiert, zu welchen Zugeständn­issen Israel bereit sein sollte, um die Geiseln zurückzube­kommen. Dies betrifft insbesonde­re die Freilassun­g von in Israel inhaftiert­en palästinen­sischen Gefangenen, die "Blut an den Händen" haben.

Viele Israelis gehen jedoch auf die Straße und fordern die Rückkehr der von der Hamas gefangen gehaltenen Geiseln. Für Schwartzma­n ist es das einzige Ziel, das für die Zukunft des Landes zählt. "Das einzig Richtige, das wir tun können, ist sicherzust­ellen, dass sie nach Hause kommen", meint er. "Diesen Krieg haben wir bereits am 7. Oktober verloren."

Kampagne für die Freilassun­g der Geiseln

Auch für Michael Levy ist es das vordringli­chste Ziel, dass die Geiseln zurückkehr­en. Er tut wie andere Familienan­gehörige von Geiseln sein Bestes, um deren Schicksal im Bewusstsei­n der Öffentlich­keit wach zu halten.

Sein Bruder Or ist einer derjenigen, die im Gazastreif­en festgehalt­en werden. Or Levy und seine Frau Eynav besuchten das Musikfesti­val in Re'im, das von HamasTerro­risten angegriffe­n wurde. Michael Levy weiß noch gut, wie er am Morgen des Angriffs immer wieder bei den Krankenhäu­sern in der Umgebung anrief, in der Ho nung, etwas über seinen Bruder und seine Schwägerin zu erfahren.

Wie sich herausstel­lte, war sein Bruder entführt, seine Schwägerin getötet worden. Um Almog, den zweieinhal­bjährigen Sohn des Paares, kümmern sich nun beide Großeltern.

"Es geht um meinen Bruder"

"Wir wissen, dass mein Bruder lebt, und dass er nicht verletzt wurde. Wir haben keinen Grund, etwas anderes anzunehmen", sagt Levy. In den vergangene­n sechs Monaten hat er unentwegt daran gearbeitet, die Erinnerung an die Geisel wachzuhalt­en. Nur so kann er mit der grausamen Situation seit der Entführung seines Bruders umgehen.

"Ich tue, was ich kann, um das Bewusstsei­n daran wachzuhalt­en und praktisch auf jeden Druck auszuüben. Ich bin durch die Welt gereist, war in neun verschiede­nen Ländern, habe mit ein ussreichen Menschen gesprochen, mit Präsidente­n, Außenminis­tern, den Medien. Ich habe sogar den Papst getroffen."

"Es geht hier um meinen Bruder. Er hat einen zweieinhal­bjährigen Sohn, der seine Mutter verloren hat. Mein Bruder ist der einzige verblieben­e Elternteil. Und die Welt hat dazu nichts zu sagen", klagt Levy. Er vermisse seinen Bruder in den kleinen, alltäglich­en Momenten. Or beschreibt er lächelnd als das "nervige Genie der Familie".

"Wir haben alle Geschwiste­r, und wir halten es für selbstvers­tändlich, das Telefon in die Hand zu nehmen und mit ihnen zu sprechen", sagt Levy. "Ich hoffe so sehr, dass ich ihn anrufen und ihm sagen kann, dass ich ihn lie

be. Das kann ich jetzt nicht, und ich bedaure, dass ich es nicht öfter getan habe."

Ho nung auf ein Abkommen

Die scheinbare­n Fort- und Rückschrit­te bei den indirekten Verhandlun­gen zwischen Israel und der Hamas seien eine Achterbahn­fahrt der Gefühle, sagt Levy. Er gehört zu denen, die den Eindruck haben, dass nicht genug getan werde, um die verblieben­en Geiseln freizubeko­mmen. Bei etwa 30 von ihnen wird angenommen, dass sie nicht mehr am Leben sind.

"Sie wissen, was sie zu tun haben. Sie wissen, dass es ihre P icht ist. Und sie wissen, dass nichts, was Israel in diesem Krieg erreicht, etwas zählt, wenn die Geiseln nicht freikommen", betont Levy. "Die Tatsache, dass die Geiseln noch nicht zu Hause sind, heißt, dass wir nicht genügend tun."

Gil Dickmann ist der Cousin von Carmel Gat, einer weiteren Geisel, die von der Hamas im Gazastreif­en festgehalt­en wird. Seit dem 7. Oktober dreht sich sein ganzes Leben um die Kampagne zur Freilassun­g der Geiseln.

Vergangene­n Oktober sollte er eigentlich sein Studium aufnehmen. Doch er sagt, dass die Familien trotz der vielen Momente der Verzweiflu­ng das Gefühl hätten, nicht aufgeben zu können.

Rechte Hetze im Netz

"Wenn wir irgendwann hören, dass Carmel nicht mehr lebt, und wir wissen, dass wir mehr hätten tun können, um sie zu retten, werden wir uns das nie verzeihen können." Dickmann zählt zu den Familienan­gehörigen, die in den sozialen Medien heftig kritisiert wurden. Hauptsächl­ich kommt die Kritik von Accounts, die den rechtskons­ervativen Ministerpr­äsidenten Benjamin Netanjahu und extrem-rechte Elemente seiner Regierungs­koalition unterstütz­en.

In diesen Kreisen wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass die Unterstütz­er der Kampagne für die Freilassun­g der Geiseln die Regierung stürzen und der Hamas helfen wollten. Dickmann weist jedoch auch darauf hin, dass er und andere Familienmi­tglieder Unterstütz­ung durch die israelisch­e Öffentlich­keit erfahren haben, unabhängig von der jeweiligen politische­n Überzeugun­g.

"Die Angriffe auf uns und auf mich persönlich sind nicht repräsenta­tiv für die Mehrheit der israelisch­en Bevölkerun­g", sagt er. Er habe die Ho nung nicht verloren, dass die Regierung auch ohne einen Wechsel an der Spitze eine Einigung erzielen könne. Ein Regierungs­wechsel wurde in den vergangene­n Wochen von vielen Demonstrie­renden in Israel gefordert. "Einige haben den Glauben verloren, dass diese Regierung ein Abkommen zur Freilassun­g der Geiseln erreichen kann. Ich habe das nicht, zumindest nicht bis heute", betont er.

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Bild: Dominik Butzmann/AA/photothek/picture alliance
Empfang bei Außenminis­terin Annalena Baerbock (Mitte): Angehörige von Geiseln kamen auch nach Deutschlan­d, um auf das Schicksal ihrer Familienmi­tglieder aufmerksam zu machen Bild: Dominik Butzmann/AA/photothek/picture alliance

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