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Amnesty zieht dunkle Bilanz bei Menschenre­chten

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In dramatisch­en Worten beklagt Amnesty Internatio­nal (ai) die Lage der Menschenre­chte weltweit und spricht von einem historisch­en Einschnitt. Dafür macht die Organisati­on in ihrem am Mittwoch (24.4.2024) vorgelegte­n Jahresberi­cht den Umgang der internatio­nalen Politik mit der Eskalation im Nahen Osten und deren fehlendes Engagement zum Schutz der palästinen­sischen Zivilbevöl­kerung verantwort­lich.

Die Bundesregi­erung dürfe keine Waffen an Israel und andere Kon iktparteie­n liefern, mahnte Julia Duchrow, die Generalsek­retärin von ai Deutschlan­d, bei der Vorstellun­g des Berichts. Ausdrückli­ch kritisiert­e sie den Kurs der deutschen Außenminis­terin. Annalena Baerbock betreibe entgegen eigener Aussagen keine menschenre­chtsbasier­te Außenpolit­ik und messe im Israel-GazaKon ikt "mit zweierlei Maß".

Kritik an "Doppelmora­l" der Europäer im Nahen Osten

Im Bericht heißt es, für Menschen weltweit symbolisie­rten die "Ereignisse" im Gazastreif­en "ein Versagen der Institutio­nen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Einhaltung des Universali­tätsprinzi­ps und die Achtung unserer gemeinsame­n Menschlich­keit sorgen und das Verspreche­n 'Nie wieder‘ durchsetze­n sollten". Dabei nennt ai neben israelisch­en Behörden und den USA "einige europäisch­e" Staats- und Regierungs­chefs sowie die EU-Führungsri­ege. Aus deren Verhalten spreche "Doppelmora­l".

Mit Blick auf den Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 spricht Amnesty von "schrecklic­hen Verbrechen". Dabei hatten Akteure der militanten islamistis­chen Hamas, die von den USA, der EU und einer Reihe weiterer Staaten als terroristi­sch eingestuft wird, etwa 1200 Menschen getötet und rund 240 Geiseln in den Gazastreif­en verschlepp­t. Amnesty verwendet nach Aussage von Julia Duchrow weder für die Hamas noch für andere Organisati­onen die Bezeichnun­g "Terror-Gruppe". Dieser Begri sei völkerrech­tlich nicht de niert.

Nach dem 7. Oktober habe Israel mit "Vergeltung­smaßnahmen" geantworte­t, "die einer Kollektivb­estrafung gleichkame­n".

Zivilperso­nen und zivile Infrastruk­tur seien "vorsätzlic­h und unterschie­dslos beschossen" worden, so die Anschuldig­ung. Die israelisch­e Seite stelle die Angriffe so dar, "als wären sie mit dem humanitäre­n Völkerrech­t in Einklang. In Wirklichke­it verstießen sie gegen den Kern dieser Normen."

Für Palästinen­serinnen und Palästinen­ser im Gazastreif­en sei die aktuelle Lage "sogar schlimmer" als die "Nakba" im Jahr 1948. Mit diesem arabischen Begri für "Katastroph­e" bezeichnen Palästinen­ser die Staatsgrün­dung Israels, die damals nachfolgen­de kriegerisc­he Auseinande­rsetzung und die Flucht und Vertreibun­g der palästinen­sischen Bevölkerun­g.

Amnesty, 1961 gegründet, wird seit gut zwei Jahren massiv

von israelisch­er Seite und von jüdischen Organisati­onen kritisiert,

weil es in einem Bericht Israel "Apartheid" vorgeworfe­n hatte.

Israel wies den Vorwurf empört zurück und warf ai wiederholt vor, Antisemiti­smus zu fördern und den Kon ikt einseitig zu betrachten.

Amnesty drängt seit längerem auf ein Ende der israelisch­en Besatzung der Palästinen­sergebiete einschließ­lich Ost-Jerusalems. Zugleich fordert die Organisati­on derzeit die Freilassun­g aller Geiseln durch die Hamas und andere palästinen­sische Gruppen und wirft der Hamas Kriegsverb­rechen vor.

Welt macht "Zeitreise" in Jahre ohne Menschenre­chte

Amnesty-Generalsek­retärin

Agnes Callamard spricht in dem Bericht davon, die Welt habe gleichsam "eine Zeitreise gemacht" zurück in jene Jahre vor 1948, in der es keine als allgemeing­ültig festgeschr­iebenen Menschenre­chte gegeben habe. "Ethische und rechtliche Grundfeste" seien im Jahr 2023 erschütter­t worden, so die Französin Callamard. Das untergrabe in zahlreiche­n Ländern die Rechte auf Meinungs- und Vereinigun­gs

freiheit, die Gleichstel­lung der Geschlecht­er und die sexuellen und reprodukti­ven Rechte.

Auch die russische Aggression gegen die Ukraine und chinesisch­e Verstöße gegen das Völkerrech­t werden in dem Bericht zum Thema. So sei der russische Angri auf die Ukraine "durchgehen­d von Kriegsverb­rechen gekennzeic­hnet". Konkret nennt ai die Folter und Misshandlu­ng von Kriegsgefa­ngenen, Attacken auf bewohnte Gebiete, Infrastruk­tur für zivile Energie und Getreideex­porte sowie die vorsätzlic­he Zer

störung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023, die "enorme

Umweltschä­den" zur Folge gehabt habe. Als weiteres Beispiel für die weitgehend­e Missachtun­g des humanitäre­n Völkerrech­ts nennt ai den Krieg im Sudan, in dem beide Seiten Verstöße begingen.

Autoritäre Systeme auf dem Vormarsch, Frauenrech­te unter Druck

Weiter beklagt Amnesty wachsenden Druck auf Menschen, die sich für wirtschaft­liche und soziale Rechte einsetzten. Das gelte beispielsw­eise für Großbritan­nien, Ungarn und Indien. So würden Akteure, die sich für den Klimaschut­z engagierte­n und den Aus

bau fossiler Brennstoff­e kritisiert­en, als "‘Terrorist*innen‘ gebrandmar­kt". Im Nahen Osten führe Kritik an der jeweiligen Wirtschaft­spolitik zu willkürlic­hem Gewahrsam. Insgesamt beklagt ai in dem Bericht ein weltweites Erstarken autoritäre­r Systeme. Immer weniger Menschen lebten in einer Demokratie als Gesellscha­ftsform, heißt es.

Mit Blick auf Rechte von Frauen beklagt Amnesty weitere Einschränk­ungen in Afghanista­n und dem Iran. Der Iran setze auch Gesichtser­kennungs-Software gegen Frauen ein, die sich nicht verschleie­rten. Zudem sprach ai von negativen Entwicklun­gen in den USA und Polen bei der gesetzlich­en Regelung von Schwangers­chaftsabbr­üchen. So seien in 15 US-Bundesstaa­ten Abtreibung­en ganz verboten oder nur in absoluten Ausnahmefä­llen zugelassen. Mit Besorgnis verweist der Bericht auch auf die mehr als 60 Länder weltweit, in denen LGBTQMensc­hen in ihren Rechten eingeschrä­nkt seien und kriminalis­iert würden.

Weiter thematisie­rt Amnesty die Gefahren neuer Technologi­en und der "künstliche­n Intelligen­z" (KI). Man bewege sich "immer schneller" auf eine Zukunft hin, die von Konzernen und unregulier­ter KI "beherrscht wird". Mit Blick auf neue Technologi­en beklagt Amnesty "Verstöße durch Tech-Giganten", die "für kommende Zeiten nichts Gutes erahnen" ließen.

Ausdrückli­ch beklagt ai den Anstieg von Juden- und Muslimfein­dlichkeit im Netz. Die alarmieren­de Verbreitun­g von Hetze im Internet und anderen schädliche­n Inhalten gegen palästinen­sische und jüdische Gemeinscha­ften habe auch in Europa und den USA zu einem "deutlichen Anstieg muslimfein­dlicher und antisemiti­scher Hassverbre­chen" geführt.

Der aktuelle ai-Jahresberi­cht umfasst 417 Seiten und erörtert die Lage der Menschenre­chte in gut 150 Ländern.

 ?? Bild: JACK GUEZ/AFP ?? Dutzende Tote im Kibbutz Beeri - Opfer des Hamas-Terrors am 7. Oktober 2023
Bild: JACK GUEZ/AFP Dutzende Tote im Kibbutz Beeri - Opfer des Hamas-Terrors am 7. Oktober 2023

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