Deutsche Welle (German edition)

Kind ausMariupo­l: Der Kriegshöll­e und Deportatio­n entkommen

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Eines Abends, erzählt Illja, sei er mit seiner Mutter aus dem Keller emporgesti­egen. Sie hätten eine Nachbarin um Wasser und ein wenig Essen bitten wollen. Ringsumher habe schon fast alles in Trümmern gelegen, aus allen Richtungen sei Gewehrfeue­r zu hören gewesen. "Wir haben es nicht bis zur Nachbarin gescha t", sagt Illja. "In der Nähe schlug eine Rakete ein. Mama el auf die Stirn. Am nächsten Tag starb sie."

Illja, elf Jahre alt, erzählt mechanisch. Als ob er etwas auswendig gelernt hätte. Als ob es nicht seine eigene Geschichte wäre.

Der ukrainisch­e Junge Illja stammt aus Mariupol, jener Großstadt im äußersten Südosten der Ukraine, die nach dem 24. Februar 2022, dem Beginn der russischen Großinvasi­on im Land, weltweit zum Symbol des russischen Terrors wurde. Während der dreimonati­gen Belagerung Mariupols zerstörte die russische Armee die Stadt fast vollständi­g und tötete zehntausen­de Zivilisten. Eine von ihnen war Illjas Mutter Natalija Matwijenko.

Sie starb am 21. März 2022, wenige Wochen vor Illjas neuntem Geburtstag. Illja selbst wurde bei dem Raketenein­schlag am rechten Bein schwer verletzt. Russische Soldaten entdeckten ihn kurz nach dem Angri und nahmen ihn mit, er kam in ein Krankenhau­s in die ukrainisch­e Stadt Donezk, die seit 2014 russisch besetzt ist. Er sollte in eine russische Familie kommen, doch seine Großmutter, die seit 2017 in Uschhorod, der westlichst­en Stadt der Ukraine, lebt, holte ihn aus Donezk heraus und brachte ihn zu sich. Bald darauf sagte Illja vor dem Internatio­nalen Kriegsverb­rechertrib­unal in Den Haag aus. Seine Zeugenauss­age trug zum Haftbefehl gegen den russischen Präsidente­n Wladimir Putin und seine Kinderrech­tsbeauftra­gte Maria Lwowa-Belowa bei.

Illja ist eines von zehntausen

den ukrainisch­en Kindern, die seit Februar 2022 von russischen Soldaten oder Beamten in den besetzten ukrainisch­en Gebieten verschlepp­t wurden. Eine of ziel

le ukrainisch­e Schätzung geht von rund 19.000 deportiert­en Minderjähr­igen aus. Putins Beauftragt­e Lwowa-Belowa brüstete sich im Sommer 2023 damit, dass russische Behörden bereits 700.000 Kinder aus der Ukraine "gerettet" hätten. Zurückhole­n konnte die Ukraine bislang nur rund 400 verschlepp­te Kinder.

Völkermord

Unabhängig von solchen Zahlen geht es um eines der schlimmste­n Kriegsverb­rechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Die ukrainisch­e Juristin, Menschenre­chtsaktivi­stin und Nobelpreis­trägerin Oleksandra Matwijtsch­uk spricht von einem Völkermord, den Russland in der Ukraine begehe. "Diese Kriegsverb­rechen sind kein Zufall und kein Unfall, sie sind eine Methode Russlands und eine Taktik der russischen Kriegsführ­ung gegen die Ukraine", sagt Matwijtsch­uk der DW. "Die Kinder kommen in Umerziehun­gslager, ihnen wird zunächst erzählt, dass sie Russen sind und Russland ihre Heimat ist. Später werden sie dann in russische Familien gebracht. Es ist eine Politik der Eliminieru­ng der ukrainisch­en Identität und eine genozidale Politik."

Auch Illja hätte dieses Schicksal fast ereilt.

Er war ein normaler ukrainisch­er Junge und führte bis zum Februar 2022 ein normales Kinderlebe­n in Mariupol. Er wohnte mit seiner alleinsteh­enden Mutter in einem Haus am östlichen Stadtrand Mariupols und ging in die dritte Klasse. Er sagt, in seiner Freizeit sei er gern ins Kino gegangen und habe zusammen mit einem Onkel gern im Park gespielt.

"Evakuierun­g"

Am zweiten Tag nach dem russischen Angri auf Mariupol oh er mit seiner Mutter in die Innenstadt. Sie hätten dann einige Tage in einem Hotel gewohnt, später in einem Luftschutz­keller, erzählt Illja. Irgendwann hätte die Mutter entschiede­n, auf der Suche nach Nahrungsmi­tteln zum Haus am Stadtrand zurückzuke­hren. Dort sei fast alles zerstört gewesen, sie hätten aber ein anderes Haus mit einem heilen Keller und mit einigen Nahrungsmi­tteln gefunden, dort hätten sie sich einige Tage versteckt - bis zu jenem verhängnis­vollen Abend, als sie zur Nachbarin gegangen seien.

Illja erzählt, nach dem Raketenein­schlag sei die Nachbarin gekommen und hätte die schwerverl­etzte Mutter und ihn in ihre Wohnung getragen. Er sagt, er erinnere sich nicht mehr genau, wie es war, als seine Mutter starb. Konnte er noch mit ihr sprechen? Illja schüttelt den Kopf. Dann sagt er, dass am nächsten Tag russische Soldaten gekommen seien. Sie hätten einfach nur gesagt: Evakuierun­g! Und ihn mitgenomme­n. "Die Fahrt ins Krankenhau­s nach Donezk war schrecklic­h", erzählt Illja. "Mein verletztes Bein tat so weh, dass ich es gar nicht beschreibe­n kann."

Im Krankenhau­s wurde Illjas

Bein operiert. Er habe gesagt, dass er eine Großmutter habe, die ihn abholen könne, erzählt Illja, aber nach ein paar Tagen hätten ihm Leute im Krankenhau­s gesagt, sie könnten ihn nach Moskau bringen, zu einer neuen Familie. "Ich habe nichts geantworte­t", sagt Illja, "denn ich wusste nicht, ob sie mir etwas antun, wenn ich widersprec­he."

Die Odyssee der Großmutter

Im Krankenhau­s seien viele ukrainisch­e Kinder gewesen, es seien auch Journalist­en gekommen und hätten ge lmt, berichtet Illja. Durch Zufall sah Illjas Großmutter Olena Matwijenko in sozialen Netzwerken einen Filmaussch­nitt, in dem ihr Enkel auftauchte. Sie rief sofort im Krankenhau­s an und sagte, sie werde ihren Enkel abholen. Kurz darauf machte sie sich auf den Weg ins besetzte Donezk - vom westukrain­ischen Uschhorod aus über Polen, Litauen, Belarus und Russland.

Es war eine Odyssee, über die Olena Matwijenko nur wenige Einzelheit­en erzählen darf - damals wurde die Rückkehr Illjas und eines weiteren Mädchens mit Hilfe der ukrainisch­en Regierung und eines russischen Geschäftsm­annes organisier­t. Um mögliche weitere Rettungen nicht zu gefährden, darf nur soviel bekannt werden: Illja und seine Großmutter gelangten Ende April 2022 über die Türkei zurück in die Ukraine. "Ich habe geweint, als ich mit meinem Enkel die Grenze zur Ukraine überschrit­ten habe", sagt Olena Matwijenko.

"Ich muss erzählen"

In der Ukraine kam Illja zunächst zur Rehabilita­tion in ein Krankenhau­s nach Kyjiw. Dort fragte ihn eine Beraterin des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj, ob er bereit wäre, seine Geschichte vor Ermittlern des Kriegsverb­rechertrib­unals in Den Haag zu erzählen. Illja willigte ein. Seitdem hat er nicht nur dort ausgesagt, sondern auch vor Vertretern der UNO. Und er hat mit zahlreiche­n westlichen Politikern gesprochen, darunter in den USA und in Deutschlan­d. "Ich habe verstanden, dass ich das machen muss", sagt Illja. "Damit keine Gleichgült­igkeit aufkommt, damit sie wissen, dass es keine Märchen sind, sondern dass es wirklich passiert ist."

Schmerzt es nicht zu sehr, die Geschichte jedes Mal neu zu erzählen? "Nein", sagt Illja, "ich habe verstanden, dass es mein Schicksal ist und deshalb weine ich nicht. Ich habe noch nie geweint, wenn ich es erzählt habe." Er sagt es wie ein Erwachsene­r und wie aus weiter Ferne. Und er fügt hinzu, dass seine Großmutter immer weine, wenn sie erzähle.

"Vielleicht sterbe ich. Es ist doch Krieg"

Die 65-Jährige ist eine herzliche Frau. Sie war ihr Leben lang Arbeiterin in Mariupol, darunter im Stahlwerk Azovstal, das 2022 zum Symbol des Widerstand­s gegen die russischen Besatzer wurde. Sie hatte vier Kinder. Ein Sohn el 2014 im Kampf gegen die russischen Besatzer in der Ostukraine. Nachdem ihre einzige Tochter 2022 ums Leben kam, bleiben ihr zwei Söhne. Und ihr Enkel Illja. Sie selbst zog schon 2017 aus Mariupol ans andere Ende der Ukraine, nach Uschhorod, weil sie möglichst weit weg wollte vom damaligen Kriegsgesc­hehen in den so genannten Volksrepub­liken Donezk und Luhansk. Sie bekommt eine Rente von umgerechne­t 67 Euro im Monat. Davon spendet sie jeden Monat einen Teil an die ukrainisch­en Streitkräf­te. "Ich würde die Ukraine um nichts in der Welt eintausche­n", sagt sie, "aber es wäre schön, wenn wir ein bisschen mehr Rente bekämen."

Illja und seine Großmutter wohnen in Uschhorod in einer Art Gemeinscha­ftswohnung, es gibt kein eigenes Bad. Sie wünschen sich ein richtiges Badezimmer mit Dusche und würden am liebsten in einem eigenen kleinen Haus wohnen. Illja sagt: "Ich habe Sehnsucht nach dem Meer, nach der Pizza, die ich früher jeden Tag auf dem Schulweg gekauft habe, und nach der Stadt. Und natürlich auch nach meiner Mutter. Gott schenke ihr Frieden."

Illja sagt, er glaube nicht, dass der Haftbefehl gegen Putin irgendetwa­s bringe. "Er ist ein Idiot, aber immerhin weiß er, dass er nicht mehr überall hinreisen kann." Illja selbst möchte, wenn er groß ist, Arzt werden. "Ich weiß nicht, ob ich es schaffen kann, denn ich habe das Syndrom der Ho nungslosig­keit. Aber es wäre mein Traum. Vielleicht sterbe ich aber auch morgen. Es ist doch Krieg."

 ?? ?? Wohnhaus in Mariupol, das am 11.03.2022 von einem Panzer beschossen wurde
Bild: Evgeniy Maloletka/AP/dpa/picture alliance
Wohnhaus in Mariupol, das am 11.03.2022 von einem Panzer beschossen wurde Bild: Evgeniy Maloletka/AP/dpa/picture alliance

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