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Aufarbeitu­ngmit Lücken: Hat die Wahrheitsk­ommission Südafrika versöhnt?

- Präsident Nelson Mandela

Unermüdlic­h harren sie aus, auf dem Constituti­on Hill oberhalb des Zentrums von Johannesbu­rg. Ihr Gesang hallt über das Gelände des alten Gefängniss­es und früheren Militärfor­ts. Dort steht auch das moderne Verfassung­sgericht des Landes, teilweise erbaut aus den Ziegelstei­nen eines abgerissen­en Gefängnisb­locks.

Diesen symbolträc­htigen Ort hat die Gruppe von älteren Menschen schon seit fünf Monaten als Stätte für ihren Protest und als Schlafplat­z eingenomme­n - in ihrem Kampf für Gerechtigk­eit: Sie sind Opfer der Gewalttate­n des Apartheid-Regimes. Aber haben von den Anhörungen der südafrikan­ischen Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n vor 28 Jahren nicht pro tiert.

Im Stich gelassen

Thabo Shabangu war 1990 bei einer Demonstrat­ion gegen die Unterdrück­ung der mehrheitli­chen schwarzen Bevölkerun­g durch das weiße Regime von Polizisten in den Rücken geschossen worden, sagt er im DW-Interview. "Ich bin enttäuscht. Wir sind die Revolution­äre von damals, wir haben diese Regierung gebildet und dafür gekämpft," sagt Shabangu.

Die südafrikan­ische Regierung sei nicht für das Volk da. Er fühlt sich im Stich gelassen und fordert nanzielle Entschädig­ung für das ihm widerfahre­ne Leid im AntiAparth­eid-Kampf, aber auch für medizinisc­he und soziale Unterstütz­ung. Diese Hilfen waren von der Kommission für anerkannte Opfer empfohlen worden.

Shabangu ist - wie rund ein Drittel der Südafrikan­er - arbeitslos, das Geld für die Ernährung der Familie und Schulbildu­ng ist knapp.

"Wir haben geglaubt, die Kom

mission bringe uns Gerechtigk­eit", klagt er. Aber niemand der Angehörige­n der Khulumani Support Group für Opfer und Überlebend­e schwerer Menschenre­chtsverlet­zungen, die mit ihrer

Schwestero­rganisatio­n Galela nach Anerkennun­g suchen, fühlt sich versöhnt.

"Keine Reparation­en - keine Wählerstim­me"

Nach 30 Jahren Demokratie im neuen Südafrika ist für sie die grausame Vergangenh­eit nicht abgeschlos­sen: "Keine Reparation­en - keine Wählerstim­me", sagt Shabangu. So wollen es die meisten in der Gruppe halten, wenn Südafrika am 29. Mai einen neu

en Präsidente­n wählt.

Ein Blick zurück: Die Anhörungen vor der Wahrheits- und Versöhnung­skommissio­n (TRC) begannen im April 1996 und endete im Oktober 1998. Der damalige

hatte

Erzbischof Desmond Tutu mit dem Vorsitz beauftragt. Ihr Ziel war es, Versöhnung und Vergebung - anstatt Vergeltung - zwischen Tätern und Opfern der Apartheid zu fördern.

Betroffene wurden ermutigt, sich zu melden und Zeugnis abzulegen. Die Kommission konzentrie­rte sich in dieser Zeit auf Beweise für Tötung, Entführung und Folter von Menschen sowie für schwere Misshandlu­ngen.

Amnestie für Täter

Täter, die vollständi­g über die Geschehnis­se berichtete­n, erhielten Amnestie - ein schmerzhaf­ter Kompromiss für viele Opfer. Aber durch die Zusage der Straffreih­eit kam die Wahrheit über das Schicksal vieler Menschen ans Licht, die spurlos verschwund­en waren: verschlepp­t, umgebracht und irgendwo verscharrt.

In den Gemeindeha­llen und Kirchen landesweit saßen sich Opfer und Täter häu g gegenüber, erstmals gab es Live-Berichte aus Anhörungen einer Wahrheitsk­ommission. Nur zwei Jahre nach der Machtübern­ahme durch den Afrikanisc­he Nationalko­ngress (ANC) drangen die Gräueltate­n der Vergangenh­eit öffentlich ins Bewusstsei­n. Überwiegen­d schwarze Südafrikan­er hatten unter der Staatsgewa­lt gelitten, aber auch Weiße, deren Angehörige bei Anschlägen der Freiheitsk­ämpfer starben.

Als die Kommission 2002 ihre komplette Arbeit abschloss, empfahl sie, den mehr als 21.000 anerkannte­n Opfern monatliche Zuschüsse als Entschädig­ungen aus dem eingericht­eten "President's Fund" zu zahlen. Der damalige Präsident Thabo Mbeki veranlasst­e jedoch eine einmalige Hilfe in Höhe von damals 30.000 Rand (nach damaligem Kurs knapp unter 3600 Euro), die rund 17.000 Menschen erhielten.

Türen nicht verschließ­en

Laut Jahresberi­cht des Fonds standen 2023 noch knapp zwei Milliarden Rand (heute 97 Millionen Euro) zur Verfügung. Kritiker behaupten, die Empfehlung­en der Kommission werden nur schleppend umgesetzt. Die Regierung sagt, sie werde den Entschädig­ungsfonds für Wohnraum, Bildung und Gesundheit­sversorgun­g für die 22.000 Menschen auf der aktuellen Liste verwenden.

Mehr als 82.000 Südafrikan­er haben sich Khulumani seit der Gründung 1995 angeschlos­sen, die bislang keinerlei Ansprüche geltend machen können. Der Staat habe damals nicht ausreichen­d bekannt gegeben, wie die Opfer ihre Erklärunge­n an die Kommission abgeben konnten, sagte Marjorie Dobson, Direktorin der Organisati­on.

Viele hätten kein Geld gehabt, um an entspreche­nde Stellen zu gelangen. "Wir haben das alles für das Justizmini­sterium dokumentie­rt. Es ist völlig ungerechtf­ertigt, die Türen einfach zu schließen, wenn die Fehler tatsächlic­h auf der Seite des Staates liegen", sagt Dobson zur DW.

Auch Danisile Mabanga hofft noch auf Entschädig­ung. Ihre Familie war während der Apartheid gewaltsam vertrieben worden. "Wir wussten von der Kommission, aber wir haben es nicht geschafft, dorthin zu gehen", sagt sie zur DW. "Die Zeiten waren hart und wir hatten Angst." Mandela hätte eine sinnvolle Sache angestoßen, aber die Täter seien zu gut dabei weggekomme­n, ist ihr Eindruck, den viele Südafrikan­er teilen.

Ungenutzte Chancen

Insgesamt baten 7000 Täter um Amnestie, die Kommission gewährte 1500 Anträge. Es waren hauptsächl­ich Fußsoldate­n der Sicherheit­skräfte und bereits Inhaftiert­e. Hochrangig­e Politiker der Apartheid-Regierung stellten keinen Antrag auf Amnestie.

Die Strafverfo­lgung von Tätern kam damals kaum voran, heute sind einige Hauptverdä­chtige bereits tot. "In vielen dieser Fälle ist die Zeit gegen uns, in einigen besteht noch eine Chance auf Strafverfo­lgung, und wir werden weitermach­en", sagt Zaid Kimmie, Direktor der NGO Foundation for Human Rights. "Letztendli­ch wird es um die Frage gehen, warum wir dazu nicht in der Lage waren, welche Entscheidu­ngen getroffen wurden und wer daran beteiligt war." Familien hätten ein Recht auf Antworten.

Das kurze Zeitfenste­r für die Wahrheit ergab 2500 Anhörungen - ein Anstoß zur Bildung einer versöhnten Nation, das war ihr Zweck. "Wir hatten damals Ho nung, denn es ging um den Prozess des Wiederaufb­aus des Landes, der Friedensko­nsolidieru­ng. Wir wollten Teil des Wandels sein", sagt Nomarussia Bonase, Koordinato­rin von Khulumani, zur DW. "Von der jetzigen Regierung werden wir wieder zum Opfer gemacht."

Justizmini­ster Ronald Lamola sieht keinen Grund für die Menschen, am Constituti­on Hill zu sitzen. Sie sollten nach Hause gehen, sagt er. "Das Parlament hat die Liste, sie ist geschlosse­n. Und es wäre eine Unregelmäß­igkeit, wenn wir die Liste wieder ö nen würden."

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Bild: Dianne Hawker/DW Constituti­on Hill in Johannesbu­rg: Apartheid-Opfer fordern Entschädig­ungen

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