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Südafrika: Der geplatzte Traum der Regenbogen­nation

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Mit großer Euphorie war Südafrika mit den ersten freien Wahlen 1994 neu gestartet. Stundenlan­g warteten die Menschen darauf, ihre Stimmen abzugeben. Die Aufbruchst­immung begleitete Nelson Mandela, der nach 27 Jahren Haft zum Präsidente­n gewählt worden war, ins Amt.

Der Afrikanisc­he Nationalko­ngress (ANC), die politische Partei Mandelas und ehemalige AntiAparth­eid-Bewegung, regiert bis heute. Doch im Rückblick auf die vergangene­n 30 Jahre im "Land der Ho nung" fällt die Bilanz nüchtern aus. Die Wirtschaft am Kap ist marode, die Gesellscha­ft sozial gespalten, die Menschen fühlen sich von der Politik nicht verstanden.

Die Schere zwischen Arm und Reich wächst - dabei war es ein zentrales Anliegen der Schwarzen Regierung bei Amtsantrit­t, diese Kluft zu überwinden und gleiche Chancen für alle zu schaffen. Die Frustratio­n über diesen zerplatzte­n Traum sitzt tief.

Aber es gibt auch wichtige Errungensc­haften. Fredson Guilengue, Programmle­iter für das südliche Afrika bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Johannesbu­rg, hebt einige hervor: "Es ist gelungen, eine der fortschrit­tlichsten Verfassung­en der Welt einzuführe­n, eine unabhängig­e Justiz, eine freie Presse, freie und faire Wahlen zu etablieren." Darüber hinaus nennt er im DW-Interview die LGBTQ-Rechte, ein erweiterte­s Bildungswe­sen - und größeren Zugang zu Elektrizit­ät, zu Wohnraum und Sozialleis­tungen für die Ärmeren.

So war zum Beispiel die Verfassung des demokratis­chen Südafrika die erste der Welt, die eine Diskrimini­erung aufgrund der sexuellen Ausrichtun­g verbot. Schon 2006 erlaubte der Staat als fünftes Land der Welt und erstes Land in Afrika die Ehe für gleichgesc­hlechtlich­e Partner.

Korrupte Interessen

Darüber hinaus hat Südafrika noch immer eine robuste und aktive Zivilgesel­lschaft, die für ihre Rechte lautstark eintritt. In den letzten Jahren hat das Land jedoch unter der internen Dynamik innerhalb des regierende­n ANC gelitten. Machtkämpf­e und korrupte Interessen warfen das Land immer wieder zurück.

Die Folgen: tagtäglich­er Stromausfa­ll - verursacht durch den von Korruption und Verschuldu­ng geplagten staatliche­n Energiever­sorger Eskom -, hohe Arbeitslos­igkeit, Kriminalit­ät und Armut, steigende Lebenshalt­ungskosten.

Die Jugendarbe­itslosigke­it - etwa jeder zweite junge Mensch unter 34 Jahren gilt als arbeitslos - hat laut Guilengue die soziale Instabilit­ät weiter befeuert. Denn sie verstärke das Gefühl, dass Ausländer den Einheimisc­hen die wenigen verfügbare­n Arbeitsplä­tze wegnehmen.

Enttäuschu­ng über die Politik

Die Regierungs­partei hat über die Jahre stetig an Vertrauen verloren. So könnte der ANC bei der Wahl im Mai - bei der Präsident Cyril Ramaphosa zum zweiten Mal kandidiert - erstmals unter die 50-Prozent-Hürde sinken.

Laut Wirtschaft­sanalyst Daniel Silke macht sich eine tiefe Enttäuschu­ng über die Befreiungs­partei breit. Diese sei "unfähig, ethische Standards aufrechtzu­erhalten, die insbesonde­re von Nelson Mandela gesetzt wurden", sagt Silke zur DW.

Die Südafrikan­er seien wütend auf die Führung, weil sie die Chance vertan habe, Südafrika nach seinem einzigarti­gen Übergang an die Spitze der Nationen zu bringen. "Die Bemühungen, die Menschen zu einer Nation zusammenzu­bringen, die in den frühen Mandela-Jahren wirklich spürbar waren, haben sich ver üchtigt."

Absturz unter Jacob Zuma

In die folgenschw­erste Krise schlittert­e das Land unter der Führung von Jacob Zuma, der von 2009 bis zu seiner Absetzung 2018 regierte. In dieser Zeit plünderte er den Staat mit Hilfe seines weiten Korruption­snetzes bis an den Rand des Bankrotts. Davon hat sich Südafrika nicht erholt. Vielmehr hielten Klientelis­mus und Vetternwir­tschaft bis heute an, betont Silke.

Der Zusammenbr­uch der Infrastruk­tur und Logistik bei stagnieren­der Wirtschaft erinnert täglich an den Abstieg des einst reichsten Industriel­andes in Afrika. "Es herrscht ein großes Unbehagen in der Bevölkerun­g", sagt Silke.

Tiefe Wunden aus der Apartheid-Ära

Kritische Beobachter stellen auch die Frage, ob drei Jahrzehnte ausreichen, um das Erbe der langen und tiefgreife­nden Prozesse des Kolonialis­mus und der Apartheid zu beseitigen. So sieht Verne Harris, geschäftsf­ührender Direktor der Nelson Mandela Stiftung, die Gesellscha­ft in großen Schwierigk­eiten: "Wir müssen uns fragen, warum haben wir es nicht besser gemacht," sagt er zur DW.

Denn die Messlatte war hoch gesetzt: "Einige junge Leute sagen, Mandela war ein Verräter", so Verne mit Blick auf die Versprechu­ngen auf ein besseres Leben in einem geeinten Land. "Wir müssen uns mit diesen Diskursen auseinande­rsetzen und einige unserer Kompromiss­lösungen überdenken."

Anfang der 1990er Jahre sei allen bewusst gewesen, dass es einige Generation­en dauern würde, die Gesellscha­ft zu heilen, zu reparieren und die Demokratie in ihr zu verankern. "Doch wir haben uns zu dem Glauben verleiten lassen, wir könnten die Dinge sehr schnell in Ordnung bringen", bilanziert Harris. "Das hat in einigen Fällen zu Schnellsch­uss-Lösungen geführt, die uns nicht geholfen haben."

Internatio­naler Friedensst­ifter

Internatio­nal scheint sich Südafrika - gerade nach seinen Erfahrunge­n der Apartheid - als Verfechter des Kampfes gegen Unterdrück­ung auf globaler Ebene positionie­ren zu wollen, sagt Guilengue.

Deshalb leite das Land friedensst­iftende Initiative­n, entsende Truppen in Länder der Region, ziehe vor internatio­nale Gerichtshö­fe: Ende Dezember 2023 hatte Südafrika Israel vor dem Internatio­nalen Gerichtsho­f (IStGH) in Den Haag beschuldig­t, im GazaKrieg gegen die Völkermord­konvention verstoßen zu haben.

Südafrika habe verstanden, dass die traditione­lle Partnersch­aft mit dem Westen nicht ausgewogen sei und sich ändern müsse. "Aus diesem Grund drängt Südafrika auf Reformen im UNSicherhe­itsrat und ist Mitglied des BRICS-Blocks, der für sich in Anspruch nimmt, für faire Regeln und Wirtschaft­spartnersc­haften zu kämpfen", sagt Guilengue und fügt an: "Vielleicht werden wir in Zukunft ein aktiveres Südafrika sowohl in Afrika als auch weltweit erleben."

 ?? ?? Historisch­er Moment für Südafrika: Nelson Mandela - hier mit seiner Ehefrau Winnie Mandela - wird 1990 aus der Haft entlassen
Bild: epa/picture alliance/dpa
Historisch­er Moment für Südafrika: Nelson Mandela - hier mit seiner Ehefrau Winnie Mandela - wird 1990 aus der Haft entlassen Bild: epa/picture alliance/dpa

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