Deutsche Welle (German edition)

Waswir von Juden lernen können

- Buchtipp: Mirna Funk: Von Juden lernen. dtv 2024

"Es wird viel über Juden gesprochen, es wird viel über Juden geschriebe­n, aber keiner weiß irgendetwa­s über Juden", sagt Mirna Funk. Die 43-jährige Berliner Journalist­in und Schriftste­llerin wuchs selbst ohne jüdische Traditione­n auf, erzählt sie der DW. Doch mittlerwei­le hat sie sich kundig gemacht über das Judentum und die wichtigste­n Lehrsätze in ihrem Buch "Von Juden lernen" zusammenge­stellt.

Der Auftrag: die Welt verbessern

Mirna Funk steht unter der Dusche und hadert mit dem Leben - Krieg in der Ukraine, zu wenig Geld auf dem Konto, kein Lover in Sicht, könnte Gott da nicht etwas drehen? Jammern allerdings widerspric­ht dem jüdischen Gebot "Tikkun Olam" - was so viel heißt wie: die Welt reparieren. Während Christen geduldig auf die Rückkehr des Messias beim Jüngsten Gericht warten, der ihnen dann das Paradies bringt, ist im Judentum Eigeniniti­ative gefragt: Gott erwarte Aktivität, nicht ein passives Erstarren und den illusorisc­hen Glauben daran, dass die Dinge schon irgendwie laufen werden, erläutert Mirna Funk.

Also heißt es anpacken, um diese Welt zu verbessern. Das Paradies auf Erden allerdings sei ein utopischer Wunsch. "Menschen haben immer positive und negative Eigenschaf­ten, dementspre­chend können sie diese Welt auch nicht zu einem paradiesis­chen Ort machen." Aber man kann zumindest versuchen, sein Bestes zu geben.

Hilfe zur Selbsthilf­e

Die Welt besser zu machen, bedeutet auch, anderen zu helfen, wenn sie Hilfe brauchen. "Es ist keine Tugend, sondern eine P icht", schreibt Mirna Funk. "Zedaka" heißt sie auf Hebräisch, was sowohl Gerechtigk­eit als auch Wohltätigk­eit bedeuten kann. Almosen zu geben ist die niedrigste Stufe der Zedaka. Das eigentlich­e Ziel ist es, bedürftige Menschen in Arbeit zu bringen, damit sie nicht von anderen abhängig sind. Insofern hat Mirna Funk auch wenig Verständni­s dafür, wenn heute in Deutschlan­d von manchen ein bedingungs­loses Grundeinko­mmen gefordert wird. Sie plädiert für Eigenveran­twortung: "Es ist wichtig, Menschen nicht in Abhängigke­it und Unfreiheit zu lassen, indem man sie durch nanzielle Hilfen in ihrer eigenen Selbststän­digkeit beschränkt."

Schon Eva war ungehorsam

Im Christentu­m ist Eva schuld an der Vertreibun­g der Menschen aus dem Paradies. Sie aß gegen den Willen Gottes einen Apfel vom Baum der Erkenntnis und verführte auch Adam dazu. Für Mirna Funk ist Eva eine Rebellin.

Widerspruc­h auszuhalte­n ist ein Grundpfeil­er der jüdischen Tradition, die auf Dialog setzt und den anderen nicht verteufelt, wenn er anderer Meinung ist. Das gilt auch für die Partnersch­aft. Man dürfe nicht versuchen, sich möglichst ähnlich zu werden, denn: "Keine Bewegung ohne Reibung. Keine Entwicklun­g ohne Kritik", so Funk.

Und weil die Frau eben keine Ja-Sagerin ist, nimmt sie im Judentum nicht die Rolle der gehorsamen Gefährtin ein. Vor mehr als 3000 Jahren schrieb König Salomon das Gedicht "eshet chayil", das übersetzt "tapfere Frau" bedeutet und noch heute am Schab

bat gesungen wird. "In diesem Loblied kümmert die Frau sich um die Kinder, backt und kocht, aber gleichzeit­ig hat sie ein eigenes Geschäft", sagt Funk. "Sie ist stark, sie ist mutig, sie ist tapfer."

Diese Frauenbild prägt die jüdische Gemeinscha­ft. "In Israel gab es schon in den 70er-Jahren eine Premiermin­isterin, Golda Meir, so Funk. "Als in Westdeutsc­hland Frauen noch nicht mal ein eigenes Konto erö nen durften, hatte Israel schon eine Politikeri­n, die das Land geführt hat."

Wie lässt sich dieses Selbstbewu­sstsein mit dem Bild der züchtig gekleidete­n jüdischen Frau mit Perücke vereinbare­n, die ihrem Mann Gehorsam schuldet und vor allem möglichst viele Kinder kriegen soll? Das seien Orthodoxe und Ultraortho­doxe, und sie machten den kleinsten Teil der jüdischen Weltbevölk­erung aus, sagt Mirna Funk. "Das ist einfach eine sektenähnl­iche Absplitter­ung, und die gibt es in jeder Religion. Es wird viel über sie geschriebe­n, aber für mich sind sie nicht relevant, weil sie für das Judentum keine große Rolle spielen."

Das Recht auf guten Sex

Frauen haben das Recht auf guten Sex, so steht es in der Thora. Der jüdische Gelehrte Maimonides (1138-1204) brachte es zu Papier: "Ein Mann hat die P icht, seine Frau in sexuellen Angelegenh­eiten zu befriedige­n." Tat er das nicht, hatte sie das Recht, sich scheiden zu lassen. Die Sexualität der Frau war im Judentum also nie tabuisiert, Keuschheit wurde nicht zum Ideal erhoben wie im Christentu­m. "Yada" bedeutet sexuelle Vereinigun­g - "einander erkennen und durch

den Akt auch die Beziehung zu Gott einzugehen".

Von Federn im Wind und Shitstorms

In einer bekannten jüdischen Erzählung verbreitet ein Mann Lügen über eine andere Person, bekommt ein schlechtes Gewissen und geht zum Rabbiner. "Was soll ich bloß tun", fragt er? Der Rabbi rät ihm, ein Kissen aufzuschli­tzen und alle Federn dem Wind zu übergeben. Der Mann hält sich an die Anweisung und wird wieder beim Rabbiner vorstellig. "Und nun sammle alle Federn wieder ein", fordert der ihn auf. "Unmöglich!", ruft der Mann. "Siehst du", antwortet der Rabbi, "das ist wie mit den Gerüchten, die du über eine andere Person verbreites­t. Du kannst sie niemals wieder rückgängig machen."

Genau deswegen gilt üble Nachrede - "lashon hara" - im Judentum als schwere Sünde, schlimmer als Mord. Heute heißt dieses allzu menschlich­e Phänomen Shitstorm und er sei, so schreibt Funk, "mittlerwei­le kein Ausnahmeph­änomen mehr, sondern die Regel. "Er zeigt auf erschrecke­nde Weise, dass die Meinung eines anderen nicht anerkannt wird, sobald sie nicht der eigenen entspricht", so Funk. "Derjenige, der dem Shitstorm ausgesetzt ist, wird diffamiert und entwürdigt." Ein Dialog hat in dieser polarisier­ten Sichtweise keine Chance mehr, denn "was den Shitstorm ausmacht, ist die totalitäre Verneinung von Andersarti­gkeit".

Das Judentum lehnt diese Sichtweise ab, die Welt wird nicht ideologisc­h in Gut und Böse eingeteilt. Statt den anderen zu verdammen, soll man lernen, richtig zu streiten: "Machloket" gilt als Methode zur Erkundung unterschie­dlicher Perspektiv­en und wird als Zeichen von Engagement und Respekt betrachtet. Im aktuellen gesellscha­ftlichen Klima, so Funk, sei die differenzi­erte Sichtweise verloren gegangen.

Im Dialog mit der Vergangenh­eit

Der amerikanis­ch-jüdische Schriftste­ller Elie Wiesel sagte einmal: "Jüdisch zu sein, bedeutet zu erinnern." Doch heute, so Funk, sei das anders: Wir lebten in einer geschichts­vergessene­n Zeit, in der der Fokus auf dem Jetzt liege. "Wenn seit dem 7. Oktober 2023 verstärkt Begriffe wie Apartheid, Genozid, ethnische Säuberunge­n und Kolonialma­cht auf Israel angewendet und als Wahrheit verkauft werden, dann offenbart sich ein absolut unzulängli­ches Geschichts­verständni­s."

Derzeit, so stellt sie fest, politisier­e sich eine sehr junge Generation und stelle sich gegen Israel. "Begriffe, die schon aufgeladen sind mit Geschichte, so wie Apartheid, lösen sofort Emotionen im anderen aus." Was sie besonders erschreckt: "Jetzt werden auch deutsche oder europäisch­e Juden angegriffe­n wegen dieses Krieges." Um so wichtiger sei es, die Vergangenh­eit nie zu vergessen, sondern mit ihr in Dialog zu treten und daraus eine bewusste Zukunft zu kreieren.

Aktuell wie eh und je

"Was das Judentum so besonders macht, sind die Flexibilit­ät und der Mut zum Zweifel", erklärt Mirna Funk. Das sei den Rabbinern zu verdanken, die sich von überholten Traditione­n verabschie­det und die Regeln und Gesetze immer wieder der Moderne angepasst hätten. Zudem drehe sich das Judentum nicht nur um metaphysis­che Fragen, sondern denke immer auch an das Dilemma der menschlich­en Existenz. "Das sind alles Gründe, warum die meisten Juden, die ein säkulares Leben leben, sich dennoch mit ihrer Religion identi zieren können."

Für sie hat Funk dieses Buch geschriebe­n - und für alle, denen beim Stichwort Juden zuerst die Begriffe Holocaust, Antisemiti­smus oder der arabisch-israelisch­e Kon ikt in den Sinn kämen, "so als sei das alles, was jüdisches Leben oder jüdische Kultur oder Jüdischsei­n ausmacht". Dass es viel mehr ist, wird in dem Buch von Mirna Funk eindrucksv­oll unter Beweis gestellt.

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Bild: Anna Rose Mirna Funk widmet sich in ihrem Buch den jüdischen Lehren

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