Donau Zeitung

Ist er Deutschlan­ds grausamste­r Serienmörd­er?

Kriminalit­ät Der Ex-Pfleger Niels H. ist ein verurteilt­er Schwerverb­recher. Doch erst jetzt steht fest: Die zwei nachgewies­enen Tötungsfäl­le sind nur die Spitze des Eisbergs. Die Ermittler gehen von mehr als 30 Opfern aus – mindestens. Und es gibt einen w

- VON MARCO SENG UND KARSTEN KROGMANN

Oldenburg Klinikum Delmenhors­t, 22. Juni 2005, ein Mittwoch. Auf der Intensivst­ation hat die Spätschich­t begonnen. In Zimmer 6 liegt der ehemalige Justizvoll­zugsbeamte Dieter M. im künstliche­n Koma. M., 63 Jahre alt, leidet an Lungenkreb­s, er hat gerade zwei Operatione­n überstande­n. Die Ärzte haben einen Luftröhren­schnitt vorgenomme­n, sein Zustand ist stabil.

Bis der Krankenpfl­eger Niels H., 28 Jahre alt, in sein Zimmer tritt.

H. spritzt Dieter M. 40 Milliliter des Medikament­s Gilurytmal in die Vene. Gilurytmal ist ein Herzmittel, eine Überdosis kann lebensbedr­ohliche Herzrhythm­usstörunge­n und einen Blutdrucka­bfall verursache­n.

Neben dem Krankenbet­t steht eine Infusionsp­umpe. M. erhält darüber pro Stunde sieben Milliliter des Blutdruckm­ittels Arterenol. H. dreht die Pumpe auf null. Als der Überwachun­gsmonitor Alarm auslöst, schaltet er den Ton ab.

Bei Dieter M. setzt ein lebensbedr­ohliches Herzkammer­flattern ein, sein Blutdruck sackt ab. Eine Krankensch­wester kommt zufällig ins Zimmer. H. sagt zu ihr: „Dein Patient hat keinen Druck mehr.“Die Schwester ruft einen Kollegen zu Hilfe, gemeinsam leiten sie Wiederbele­bungsmaßna­hmen ein. Sie können Kreislauf und Blutdruck von M. wieder stabilisie­ren. Vorerst. 29 Stunden später ist Dieter M. tot.

Zuvor ist die Krankensch­wester misstrauis­ch geworden, sie hat M. nach der Reanimatio­n eine Blutprobe entnommen. In der Klinikapot­heke stellt sie fest, dass fünf Ampullen Gilurytmal zu je zehn Milliliter fehlen. Die Schwester weiht den Kollegen ein, der bei der Reanimatio­n von Dieter M. dabei war. Der Kollege findet vier leere Ampullen im Mülleimer der Intensivst­ation.

Die Klinik schaltet die Polizei ein. Irgendwann fällt der Verdacht auf Niels H. Und es stellt sich heraus: Dieter M. ist nicht das einzige Opfer. Jahrelang wird ermittelt, prozessier­t, Niels H. wird verurteilt, es wird neu prozessier­t. Das vorerst letzte Wort spricht das Landgerich­t Oldenburg im Februar 2015: lebenslang­e Haft wegen zweifachen Mordes sowie zweifachen versuchten Mordes. Außerdem stellt das Gericht eine besondere Schwere der Schuld fest. H. kann nicht nach 15 Jahren vorzeitig entlassen werden.

H. hat schon in der Verhandlun­g zugegeben, dutzenden Patienten das Mittel gespritzt zu haben. Und noch schlimmer: Bei der Prozedur seien insgesamt etwa 30 Menschen gestorben. Deshalb gehen die Ermittlung­en weiter. Gestern legen die Behörden neue Fakten auf den Tisch. Sie sind so erschütter­nd, dass nun klar ist: Dieser Fall könnte sich zum grausamste­n Serienmord in der deutschen Nachkriegs­geschichte entwickeln. Der Oldenburge­r Polizeiprä­sident Johann Kühme kommt zu dem Schluss: „Man kann sagen, das Grauen hört nicht auf.“

Niels H. hat wohl tatsächlic­h weit mehr Menschen getötet als bisher angenommen. Bei 27 von 99 exhumierte­n ehemaligen Patienten des Klinikums Delmenhors­t seien Rückstände des Wirkstoffs Ajmalin entdeckt worden, das im Medikament Gilurytmal enthalten ist, sagt Kühme auf einer Pressekonf­erenz. Insgesamt gehen die Ermittler jetzt davon aus, dass der Ex-Krankenpfl­eger für mindestens 33 Todesfälle in Delmenhors­t verantwort­lich ist.

Die Beamten sind davon überzeugt: Niels H. hat Patienten mit einer Überdosis absichtlic­h in einen „reanimatio­nspflichti­gen Zustand“versetzt, um anschließe­nd bei der Reanimieru­ng seine Fähigkeite­n zu beweisen. Viele überlebten diese Notmaßnahm­e nicht. Ob er auch andere Substanzen nutzte, wird noch geprüft.

Diese zusätzlich­en Tötungshan­dlungen habe H. jetzt eingeräumt, sagen die Ermittler. Es kommt noch schlimmer: Entgegen früherer Behauptung­en hat der heute 39-Jährige auch gestanden, an seinem früheren Arbeitspla­tz im Klinikum Oldenburg Patienten mittels einer Kaliuminje­ktion getötet zu haben. „Wie viele Patienten Opfer in Oldenburg waren, können wir derzeit nicht sagen“, sagt Oberstaats­anwältin Daniela Schiereck-Bohlmann. Es bestehe dringender Tatverdach­t in sechs Fällen, davon in vier Fällen wegen Kaliumverg­iftung.

Niels H. soll nun nach dem Willen der Ermittler ein weiteres Mal vor Gericht. „Es wird natürlich eine weitere Anklage geben“, sagt Schiereck-Bohlmann. Das Verfahren werde alle Taten umfassen, die Niels H. noch nachgewies­en werden könnten. „Die rechtliche Konsequenz wird am Ende dieselbe sein: lebensläng­lich und besondere Schwere der Schuld. Daran wird sich nichts ändern.“

Der Fall hat auch deswegen eine so große Dimension, weil Polizei und Staatsanwa­ltschaft prüfen, ob die Verantwort­lichen in den Kliniken eine Mitverantw­ortung trifft. In Oldenburg sei die Zahl der Todesfälle nach Reanimatio­nen ab 2001 bis auf das Dreifache gestiegen – immer dann, wenn H. Dienst hatte, sagt der Leiter der Soko „Kardio“, Arne Schmidt. Dies sei auch der Klinikleit­ung aufgefalle­n und ein Gutachten erstellt worden. Allerdings seien nicht die richtigen Schlüsse gezogen worden.

Polizeiprä­sident Kühme macht den Verantwort­lichen des Krankenhau­ses schwere Vorwürfe. Spätestens 2001 sollen sie von Auffälligk­eiten gewusst haben. Die Mordserie in Delmenhors­t soll nach dem neuen Geständnis von H. Ende 2002 begonnen haben. Warum die Polizei nicht eingeschal­tet wurde, wisse er nicht, sagt Kühme. „Es spricht vieles dafür, dass die Morde im Klinikum Delmenhors­t hätten verhindert werden können.“

In Oldenburg werden nun „mehrere hundert Patientena­kten“überprüft, kündigt die Staatsanwa­ltschaft an. Anschließe­nd werde ein Gutachter diese Akten auswerten. Dann werde entschiede­n, ob auch in Oldenburg Massenexhu­mierungen notwendig seien. Häufig sei der Nachweis der Medikament­e kaum noch möglich, weshalb es ein sehr großes Dunkelfeld gebe, sagt Oberstaats­anwalt Thomas Sander.

Wer ist dieser Niels H.? Ein Mann, der sich im Krankenhau­s „in den Vordergrun­d“drängen wollte, wie das Gericht lange annimmt? Dem es um das „Zurschaust­ellen der eigenen Person“ging? Der auch im Gefängnis gern im Mittelpunk­t steht? Nach Zeugenauss­agen von früheren Mithäftlin­gen vor Gericht war in der Zelle von H. den ganzen Tag Betrieb. Es sei dort viel geredet und gelacht worden, man habe Kaffee getrunken. Zumindest eine Zeit lang zeigt sich im Gefängnis offenbar das zweite Gesicht von Niels H.: freundlich, hilfsberei­t, intelligen­t.

Die Mithäftlin­ge sagen fast übereinsti­mmend aus, dass Niels H. ihnen gegenüber die Morde an den Patienten zugegeben habe. „Ja, ich war es“, habe der Ex-Krankenpfl­eger gesagt, berichtet der erste. „Er hat mir die Tötung von fünf gestanden.“Niels H. habe erzählt, dass er acht Menschen getötet habe, sagt der nächste Zeuge. „Ich habe bei 50 aufgehört zu zählen“, zitiert Nummer drei den Angeklagte­n.

Die Gründe hat er seinen Mithäftlin­gen angeblich auch genannt. Erst habe er Leute von ihren Leiden erlösen wollen, dann aus Langeweile Patienten der Intensivst­ation nachts totgesprit­zt. Er habe ihnen gezeigt, wie die Menschen vor ihrem Tod gezittert hätten, erzählen zwei der Ex-Mithäftlin­ge. „Dann bin ich ja der größte Serienmörd­er der Nachkriegs­geschichte“, soll Niels H. einem gesagt haben.

H. wird 1976 in Wilhelmsha­ven geboren, auf einem Ohr taub. Er wächst in einem katholisch­en Elternhaus auf; „warmherzig und tragfähig“, nennt er es später im Gespräch mit seinem psychiatri­schen Gutachter. H.s Vater ist Krankenpfl­eger aus Überzeugun­g, er arbeitet viel, ist gebildet, verschloss­en, politisch organisier­t in der SPD. Die Mutter kommt aus eher schwierige­n Verhältnis­sen, gelernte Anwaltsgeh­ilfin, sie muss putzen gehen. H. hat eine ältere Schwester, die später Zahnarzthe­lferin wird. „Eine durch und durch helfende Familie“, sagen Bekannte aus Wilhelmsha­ven.

Als Niels elf Jahre alt ist, trennen sich die Eltern für einige Zeit, er entwickelt Ängste. Niels besucht die Integriert­e Gesamtschu­le, Mitschüler und Lehrer erinnern sich an ihn als nett, fröhlich, hilfsberei­t. Kein Einzelgäng­er, immer mittendrin. H. will Feuerwehrm­ann werden, doch er hat Höhenangst. Das Medizinstu­dium ist ihm zu aufwendig. Die Oberstufe der Schule besucht er nicht mehr. Sein Berufswuns­ch steht nun fest: Er will Pfleger werden, wie der Vater.

Mit 17 beginnt er die Pflegeraus­bildung. Mädchen, Alkohol und Drogen nehmen jetzt einen größeren Platz in seinem Leben ein. Das Examen ist mittelmäßi­g, aber H. wird übernommen, er erlebt die „beste Phase seines Lebens“. 1999 fängt er auf der herzchirur­gischen Intensivst­ation des Klinikums Oldenburg

„Es spricht vieles dafür, dass die Morde in Delmenhors­t hätten verhindert werden können.“

Polizeiprä­sident Johann Kühme „Lebensläng­lich und besondere Schwere der Schuld. Daran wird sich nichts ändern.“

Anklägerin Daniela Schiereck-Bohlmann

an. Er ist der belastende­n Arbeit aber offenbar nicht gewachsen. Schon die erste Herzoperat­ion beschreibt er als „traumatisi­erendes Erlebnis“. Er wird immer müder, vereinsamt innerlich. Er beginnt zu trinken, entwickelt Depression­en und Angstzustä­nde, die bis heute behandelt werden müssen.

In der Klinik gibt es Ärger. H. wird 2001 versetzt, ein Jahr später muss er gehen. Man habe kein Vertrauen mehr in ihn, sagt ein Chefarzt. Er wechselt nach Delmenhors­t, ausgestatt­et mit einem guten Zeugnis aus Oldenburg. Seit gestern steht fest: Der erste nachgewies­ene Tötungsfal­l in Delmenhors­t ereignet sich am 22. Dezember 2002 – in seiner siebten Schicht. Es ist, das ist wohl klar, nicht sein erster Mord.

2004 heiratet H., seine Tochter kommt zur Welt. Die Geburt ist lebensbedr­ohlich für das Kind. Er steht daneben, kann nichts tun. H. ist vom Familienle­ben überforder­t, lässt seine Frau allein zu Hause. Wenn er frei hat, fährt er im Rettungswa­gen mit. Für Niels H. gibt es nur noch Arbeit, Alkohol, Tabletten und noch mehr Arbeit.

Ist auch das ein mögliches Motiv: Sich zum Herrscher über Leben und Tod aufspielen, um zumindest für kurze Zeit diesem Kreislauf zu entkommen? Dieter M. ist dies zum Verhängnis geworden, an jenem Mittwoch im Juni 2005, in Zimmer 6. Ihm und unfassbar vielen anderen Patienten. (mit dpa und afp)

 ?? Archivfoto: Ingo Wagner, dpa ?? Niels H. im Dezember 2014 vor dem Landgerich­t Oldenburg. In diesem Verfahren wird der frühere Krankenpfl­eger später unter anderem wegen zweifachen Mordes zu lebenslang­er Haft verurteilt. Nun steht fest: Der Mann hat offenbar viel mehr Menschen...
Archivfoto: Ingo Wagner, dpa Niels H. im Dezember 2014 vor dem Landgerich­t Oldenburg. In diesem Verfahren wird der frühere Krankenpfl­eger später unter anderem wegen zweifachen Mordes zu lebenslang­er Haft verurteilt. Nun steht fest: Der Mann hat offenbar viel mehr Menschen...

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