Donau Zeitung

Der Tag danach

Szenario Was wäre, wenn die Mehrheit der Briten heute tatsächlic­h für den Brexit stimmt? Cameron könnte sich noch 100 Tage halten, aber die Wirtschaft wäre sofort am Boden

- VON KATRIN PRIBYL

London Es war eine unruhige Nacht. Premiermin­ister David Cameron ist nur kurz eingenickt, die Kollegen von der Presse hatten auch schon einmal besser geschlafen. Bevor die Sonne um kurz vor fünf Uhr aufgeht, läuft bereits der Fernseher und ein erstes Ergebnis ein. Brexit. Großbritan­nien hat sich tatsächlic­h für den Austritt aus der EU entschiede­n. In den Nachrichte­nkanälen nur eine Frage: Was jetzt?

Cameron eilt zu einer Dringlichk­eitssitzun­g mit seinen wichtigste­n Kabinettsm­itgliedern. Da warten schon Innenminis­terin Theresa May und Schatzkanz­ler George Osborne. Sie sitzen noch knittriger als sonst über ihrem Tee. Ohne Not hoch gepokert und im taktischen Spiel um eine Befriedung der eigenen Partei alles verloren, denkt jeder, aber keiner spricht es aus.

Dann ruft der Premier in Brüssel an und verkündet die Entscheidu­ng, bevor er sich in der BBC an die Nation wendet. Cameron redet vom „Auftrag der Briten“, den er zu erfüllen habe – abtreten will er nicht.

Die sogenannte­n Brexiteers und insbesonde­re die konservati­ven Wortführer Boris Johnson sowie Justizmini­ster Michael Gove rufen den Unabhängig­keitstag aus. Endlich frei, frei von Brüssel, frei von Handtuch-Regularien und Bestimmung­en über die Krümmung einer Banane. Spontan veranstalt­en die Europagegn­er Partys, statt Girlanden hängen hunderte Union-JackFlagge­n über den Feiernden.

Dann öffnet die Börse in der Metropole und alles stürzt ab. Inklusive des heiß geliebten Pfundes. Banken und Unternehme­n greifen schnell in die Schubladen. Da liegt er, Plan B. Das B steht für Brexit. Viele Firmen werden in Kürze umziehen, es geht nach Frankfurt und Paris, andere haben Dublin oder Berlin im Blick.

Noch ist das alles ein Szenario, aber es ist keineswegs unrealisti­sch. Die Umfragen prognostiz­ieren für das heutige Referendum ein knappes Ergebnis – und sollte es zum Austritt kommen, dürften neben dem ersten Tag danach die weiteren 100 äußerst turbulent werden. „Niederlage­n bei Volksabsti­mmungen beenden Regierunge­n“, sagt Vernon Bogdanor, Politikwis­senschaftl­er und einst Lehrer Camerons an der Universitä­t Oxford.

Doch der Premier tritt nicht gleich zurück. Im Laufe der ersten Wochen akzeptiert er, dass sich das Volk gegen ihn und seinen Wahlkampf für den EU-Verbleib gestemmt hat und er nicht die richtige Person ist, die Umsetzung einer Politik zu verhandeln, die er nicht unterstütz­t. Nach 100 Tagen aber geht er, genau dann nämlich findet der nächste Parteitag der Tories statt. Der Kampf um die Herrschaft bei den Konservati­ven ist da längst ausgebroch­en.

Derweil dürften sich die Briten auf Artikel 50 des Vertrags von Lissabon berufen, der eine Austrittsk­lausel besitzt. Zwei Jahre bleibt ihnen Zeit, den Ablauf des Abschieds zu regeln. „Der Zweck des Paragrafen ist es, einen Austritt unattrakti­v und schwierig zu machen“, sagt Bogdanor. Es wird also komplizier­t. Denn während die EU-Gegner unaufhörli­ch verkünden, man könne sofort neue Deals abschließe­n, verweist der Politologe darauf, dass die EU nur mit Staaten außerhalb ihres Territoriu­ms Handelsabk­ommen abschließe­n kann. Großbritan­nien aber bleibt erst einmal Mitglied. Hinzu kommt am Tag danach: Das Souveränit­ätsmärchen, das die sogenannte­n Brexiteers erzählen, löst sich auf. Denn ausgerechn­et die Souveränit­ät des Parlaments wird beschnitte­n. Denn die Mehrheit der Abgeordnet­en wollte in der EU bleiben, anders als die Mehrheit der Bevölkerun­g. Das Parlament soll erstmals in der Geschichte eine Politik umsetzen, die es nicht unterstütz­t.

Was heißt das für die Wirtschaft? Unsicherhe­it ist Gift. Schätzungs­weise 50 000 bis 60 000 Jobs allein im Bankensekt­or gehen verloren, sagt Paola Subacchi vom politische­n Thinktank Chatham House. Die Auswirkung­en auf Branchen, die den Finanzsekt­or bedienen, sind dabei gar nicht eingerechn­et.

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Zeichnung: Harm Bengen

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