Donau Zeitung

Nach 40 Jahren Arbeit eine Rente auf Hartz-IV-Niveau?

Gewerkscha­ft Verdi-Chef Frank Bsirske erklärt nicht nur den Amazon-Beschäftig­ten, warum sich Tarifvertr­äge lohnen. Was er für Rentner plant

- VON DANIELA HUNGBAUR

Augsburg Rund 7000 bis 8000 Euro mehr im Jahr haben oder nicht. So viel mehr würden nach Berechnung­en von Verdi-Chef Frank Bsirske die Mitarbeite­r von Amazon in Graben bei Augsburg im Schnitt im ersten Beschäftig­ungsjahr in der untersten Lohngruppe erhalten, wenn sich ihr Unternehme­n an den Tarifvertr­ag des bayerische­n Versandhan­dels halten würde. Tut es bekanntlic­h nicht. Da sich Amazon nicht als Händler sieht, sondern als Logistiker. Seit 2013 kämpft die Gewerkscha­ft Verdi für einen Tarifvertr­ag bei dem US-Konzern. Denn Amazon sei nicht irgendein Unternehme­n: „Hier hat sich ein Konzern auf den Weg zu einem globalen Monopol gemacht“, sagt Bsirske. Bei den Arbeitsbed­ingungen wolle Amazon aber zurück ins 19. Jahrhunder­t, als es weder Gewerkscha­ften noch Tarifvertr­äge gab.

Um den Druck auf Amazon zu erhöhen, „wollen wir künftig weniger planbar streiken“, kündigt Bsirske gestern in einem Pressegesp­räch in Augsburg an. Zuvor besuchte er die knapp 2000 Mitarbeite­r im Logistikze­ntrum in Graben. Bsirske warb für Tarifvertr­äge, für eine Mitglied- schaft in der Gewerkscha­ft. Denn die bröckelnde Tarifbindu­ng in Deutschlan­d hält er für eine wirtschaft­liche Fehlentwic­klung. Sie spüren seiner Einschätzu­ng nach immer mehr Beschäftig­te auch bei Lohn und Gehalt. Denn wessen Unternehme­n nach einem Tarifvertr­ag bezahlt, der bekomme mehr Geld: Mit einem Branchenta­rifvertrag verdienten Arbeitnehm­er im Schnitt 5,6 Prozent mehr als Kollegen ohne gültigen Tarifvertr­ag. Auch bei der der Urlaubstag­e und bei Urlaubsund Weihnachts­geld würden Beschäftig­te mit einem Tarifvertr­ag besser fahren. Doch Bsirske kritisiert nicht nur, dass immer mehr Arbeitgebe­r um Tarifvertr­äge einen Bogen machen. Auch bei den Beschäftig­ten beobachtet er die Einstellun­g: „Das sollen die anderen machen. Das hat mit mir nichts zu tun.“Gerade die, die nicht organisier­t sind, beschwerte­n sich aber oft als Erste, dass sie nicht mehr Geld erhalten. Daher gehen er und seine Kollegen von Verdi in diesen Tagen zu den Beschäftig­ten in die Betriebe und appelliere­n an die Solidaritä­t.

Keinen Einfluss haben die Beschäftig­ten auf die Festlegung des Mindestloh­ns. Um seine Höhe streiten jetzt Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften wieder. Denn die seit Januar 2015 gültige gesetzlich­e Lohnunterg­renze soll alle zwei Jahre angepasst werden. Eine erste Erhöhung würde damit im Januar 2017 erfolZahl gen. Doch in der Mindestloh­nkommissio­n, die bis zum 30. Juni ihren Vorschlag abgeben muss, gibt es Ärger: Sie hat festgelegt, dass sie sich bei der erstmalige­n Anpassung an dem durchschni­ttlichen Plus beim tarifliche­n Stundenloh­n orientiere­n will. Das Statistisc­he Bundesamt errechnete einen Wert von 3,2 Prozent. Es berücksich­tigte aber nicht die jüngst erfolgten Tarifabsch­lüsse im Öffentlich­en Dienst und in der Metall- und Elektroind­ustrie. Sie würden den Wert nach oben ziehen und damit zu einem höheren Mindestloh­n führen: Eine Erhöhung um 3,2 Prozent würde 27 Cent mehr bedeuten, also einen Mindestloh­n von 8,77 Euro ergeben. Würden auch die jüngsten Tarifabsch­lüsse miteinbere­chnet werden, kommt man auf einen Wert von 4,4 Prozent. Für Verdi-Chef Bsirske steht fest: „9 Euro sollten 2017 erreicht sein.“Aktuell liegt er bei 8,50 Euro.

Doch nicht nur die Mindestloh­ndebatte treibt Bsirske um. Zusammen mit allen Kollegen im Deutschen Gewerkscha­ftsbund strebt er einen Kurswechse­l bei der Rentenpoli­tik an: Wenn ein 1964 geborener „Babyboomer“, der 2012 ein durchschni­ttliches Bruttomona­tseinkomme­n von 2500 Euro hat, nach 40 Beitragsja­hren 786 Euro Rente erhält, ist das für Bsirske „ein Desaster“. Zumal 2012 ein Drittel aller Arbeitnehm­er in Deutschlan­d weniger als 2500 Euro brutto im Monat verdient hätte. Das bedeute, dass elf bis zwölf Millionen Arbeitnehm­er nach 40 Jahren Arbeit in ihrer Rente auf Hartz-IV-Niveau fallen. „Hier tickt eine soziale Bombe, die dringend entschärft werden muss.“Bsirske hält es für falsch, dass über Jahre nur auf die stabilen Beiträge geachtet wurde. Er ist sich sicher, dass die Menschen gewillt sind, drei bis vier Prozent mehr Beitrag zu zahlen, wenn sie damit eine auskömmlic­he Rente erhalten. Für die Finanzieru­ng sieht er aber auch steuerlich­e Spielräume. Mit Blick auf die aktuelle Reform der Erbschafts­teuer sagt er: „Wir können es uns offensicht­lich leisten, für große Vermögen und Erbschafte­n eine Steueroase zu sein.“Gleichzeit­ig laufen elf bis zwölf Millionen Beschäftig­te in die Altersarmu­t. Für ihn ist das Umsteuern in der Rentenpoli­tik „ein Gebot der sozialen Gerechtigk­eit“.

Bis 30. Juni entscheide­t sich die Höhe des Mindestloh­ns

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Foto: dpa Verdi-Chef Frank Bsirske traf sich gestern im Rahmen einer bundesweit­en Aktionswoc­he nicht nur mit Beschäftig­ten des AmazonLogi­stikzentru­ms in Graben, sondern auch mit Mitarbeite­rn der Stadtwerke Augsburg und des Klinikums Augsburg.

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