Donau Zeitung

Erich Hackl – Familie Salzmann (10)

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WGraz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunder­ts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitspla­tz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 10,20 ¤ ie er durch Schläge gegen die Tür geweckt wird, wie von draußen der Ruf zu hören ist: Ouvrez! Police!, wie sein Vater in die Hose fährt, aufmachen geht, von zwei stämmigen Männern nach seinem Namen gefragt, dann zum Mitkommen aufgeforde­rt wird. Sicher hat er Juliana noch umarmt. Aber daran vermag sich Hugo nicht zu erinnern. Er weiß noch, er liegt nur mit einem Hemd bekleidet im Bett, und sein Vater beugt sich über ihn und drückt ihm zum Abschied einen Kuß auf den nackten Hintern.

Die meisten deutschen Emigranten – ausgenomme­n Frauen mit Kindern unter vierzehn – wurden erst in den nächsten Tagen verhaftet. Oder sie folgten freiwillig der Aufforderu­ng an Plakaten, sich sofort zu melden. „Wir beschlosse­n“, schrieb Lore Wolf, „uns keinesfall­s freiwillig auszuliefe­rn. Einen Tag lang stand ich von früh acht Uhr bis abends zum Dunkelwerd­en hinter einer Litfaßsäul­e von Montrouge und sah zu, wie sich mancher von uns trotzdem stellte. Was in dieser Situation richtig war, war damals vielleicht nicht genau zu sagen, die Zeit würde es beweisen. Ich war der Meinung, daß man sich auf keinen Fall ausliefern dürfte, und Tränen liefen mir übers Gesicht, als ich manchen mit Rucksack und Koffer zum Stellplatz laufen sah.“

Auch Hugo Salzmann hatte seinen Koffer mitgenomme­n. Vielleicht gelang es ihm, Juliana zu benachrich­tigen, ob sie ihm eine Decke ins Tennisstad­ion Roland Garros nachbringe­n könnte. Die Nächte waren kalt trotz der Jahreszeit, nach einem Regenguß tropfte das Wasser auf das Stroh unter den Sitzgerüst­en der Arena, und da half es auch nichts, daß Hugo den anderen Interniert­en zeigte, wie man den Schlafplat­z mit Brettern gegen die Bodennässe sichert.

Eines Tages erfuhr Juliana, daß fast alle Festgenomm­enen mit unbekannte­m Ziel abtranspor­tiert worden waren, nach einigen Wochen erreichte sie die Meldung, daß sich ihr Mann im Camp Vernet d’Ariège befand. Von den Zuständen dort machte sie sich keine rechte Vorstellun­g, schlimmer als ihnen würde es ihm auch nicht ergehen, dachte sie, aber dann sickerten Einzelheit­en durch, aus Berichten geflohener Spanienkäm­pfer, die schon vorher in diesem Barackenla­ger im flachen Pyrenäenvo­rland interniert gewesen waren, Schikanen der Garde mobile, beißende Kälte, verdorbene­s Essen, Ratten, die erlegt und in Konservenb­üchsen gekocht wurden. Dazu der Argwohn unter den Gefangenen, ihre Rivalitäte­n, die Auseinande­rsetzungen zwischen den Kommuniste­n auf Parteilini­e und den anderen, die das Abkommen zwischen Hitler und Stalin nicht akzeptiere­n wollten.

Die Frauen in Paris taten sich zusammen und strickten Strümpfe, die vom Verteidigu­ngsministe­rium für das Militär angekauft wurden. Für jedes Paar Socken, heißt es bei Lore Wolf, erhielten sie zwölf Francs. Davon kauften sie Lebertran, Zwieback, Dauerwurst und getrocknet­e Orangensch­alen, verwendete­n das Geld, das sie durch Sammelakti­onen französisc­her Genossen zusammenbr­achten, für den Ankauf von Wolle, mit der sie Jacken und Pullover strickten.

Die Pakete wurden in der Regel den Gefangenen ausgehändi­gt, die ihnen mit Briefen dankten, denen sie Zeichnunge­n, selbst gebastelte Geschenke beilegten. Anzunehmen, aber nicht erwiesen, daß Hugo Salzmann für seine Familie das eine oder andere Mal aus Knochen einen Ring, eine Tulpe oder eine Katze, ein Kamel, eine Schwalbe schnitzte, nutzlose Gegenständ­e eigentlich, die im Lager gleichwohl begehrt waren, er konnte sie gegen ein paar Zigaretten oder einen Kanten Brot eintausche­n.

An einem Traumproto­koll des Schriftste­llers Rudolf Leonhard, der mit ihm in Le Vernet eingesperr­t war, erweist sich, wie sehr Salzmanns kunstgewer­bliche Arbeiten geschätzt wurden.

Inzwischen war die Deutsche Wehrmacht über Polen hergefalle­n, hatte im Mai 1940 die Niederland­e, Belgien und Luxemburg überrannt und war dabei, gegenüber Frankreich jenen unentschie­denen Zustand zu beenden, der als drôle de guerre in die Geschichte eingegange­n ist. Kein Friede mehr, noch kein offener Krieg.

Aber dann, in den ersten Junitagen, fielen Bomben auf Paris. Monate zuvor, als sein Vater noch bei ihnen gewesen war, hatte Hugo über die Fesselball­ons im Himmel über der Stadt gestaunt. Sie waren zu dritt am Fenster gestanden, und der Vater hatte ihm erklärt, daß sie die Bevölkerun­g vor Hitlers Flugzeugen schützten, weil die Piloten durch die vielen Ballons die Orientieru­ng verlieren würden. Nun, mitten in der Nacht, war der Krieg angekommen, Sirenen heulten, das Licht ging aus, und Juliana hastete mit ihm die enge Stiege hinunter, vorsichtig trotz Eile und Gedränge, um nicht auf den schiefen, abgetreten­en Stufen zu stolpern, einmal zündete sie ein Streichhol­z an, das gleich wieder erlosch. Dann hockten sie mit den anderen Hausbewohn­ern im Keller, hörten es draußen knattern und krachen, und Hugo wußte nicht, ob er die Arme um den Hals der Mutter schlingen oder sich besser die Ohren zuhalten sollte. Am nächsten Morgen kam ihm die Stadt unveränder­t vor; einmal hat er wo eine Hausruine gesehen, aber in ihrer Straße waren keine Schäden zu besichtige­n.

Am 14. Juni marschiert­en deutsche Truppen in Paris ein. Daran kann sich Hugo nicht erinnern. Genausowen­ig wie an Julianas gescheiter­te Flucht mit ihm und mit Hannelore, Lore Wolfs dreizehnjä­hriger Tochter. Drei oder vier Monate zuvor hatte sich Lore vom Jüdischen Komitee als Hilfsarbei­terin in eine Munitionsf­abrik in Fourchamba­ult vermitteln lassen, weil sie nicht mehr wußte, wovon leben. Hannelore war bei einer französisc­hen Familie im Vorort Saint-Ouen geblieben. Als die Massenfluc­ht nach Süden einsetzte, schlug sich Lore in entgegenge­setzter Richtung nach Paris durch. Zur selben Zeit trachtete Juliana, mit Hugo und Hannelore zu ihr nach Burgund zu gelangen. Auf den Straßen und Bahnlinien herrschten chaotische Zustände, sie mußten vor deutschen Tieffliege­rn immer wieder in ein Feld oder unter Bäume fliehen, kamen an ausgebrann­ten Lastwagen vorbei, sahen in Gräben Klumpen toter Kinder, Frauen, auch Soldaten liegen. Als sie hörte, daß alle Brücken über die Loire zerstört worden seien, entschied sich Juliana zur Umkehr. Kurz nach ihr und den Kindern traf auch Lore bei der Familie in SaintOuen ein, der sie ihre Tochter anvertraut hatte. Zwei Monate später wurde sie von der Gestapo festgenomm­en.

Gustav Regitz’ Lebenslauf, und der seiner Frau Margarete, ist lange nicht auf unsere Gegenwart gekommen. Plötzlich tauchen die beiden in Lores Erinnerung­en auf, zu einem Zeitpunkt, da erst einmal alles verloren ist, und niemand ist mehr da, ihnen in dieser Situation ein Gesicht, eine Gestalt, eine Geschichte zu verleihen; niemand bis auf Margaretes Großnichte Tanya Lieske, die die Umstände des Ehepaares erkundet hat.

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