Keiner sah das Leiden des Babys
Justiz Eine Mutter, die ihr Kind fast verhungern ließ, steht in Augsburg vor Gericht. Im Prozess zeigt sich: Obwohl Pädagogen mehrfach in der Wohnung waren, bemerkten sie lange nichts
Augsburg Der erst wenige Monate alte Jeremy wäre fast verhungert, weil er von seiner Mutter massiv vernachlässigt wurde. Im Prozess gegen Mutter Sindy P., 29, vor dem Augsburger Landgericht geht es auch um die Frage, warum das Jugendamt erst so spät auf den dramatischen Zustand des Jungen aufmerksam wurde. Dabei wird immer deutlicher: Es gab Probleme in der Absprache zwischen dem Amt und einer von der Behörde beauftragten Sozialpädagogin. Bei zwei Hausbesuchen merkte keiner etwas von den Leiden des kleinen Jeremy. Es war letztlich Glück, dass der lebensbedrohliche Zustand des Jungen doch noch rechtzeitig entdeckt wurde.
Das Gericht geht am Donnerstag der Frage nach, was sich in den Wochen vor dem 4. Mai 2015 abgespielt hat. An diesem Tag kam der kleine Jeremy in die Kinderklinik, wo man ihn wochenlang wieder aufpäppelte. Eine Mitarbeiterin des Augsburger Jugendamts sagt, sie habe am 13. April eine anonyme Meldung erhalten, dass die Kinder von Sindy P. sehr dünn seien. Es hieß darin auch, die Mutter gehe oft feiern und lasse die Kinder alleine zu Hause zurück. Neben dem damals etwa acht Monate alten Jeremy wohnten auch zwei 2010 und 2013 geboren, bei der Mutter – in einer städtischen Wohnung für Obdachlose. Zwei weitere, etwas ältere Kinder, lebten bei deren Vater.
Nach dem Hinweis telefonierte die Jugendamts-Mitarbeiterin mit einer Sozialpädagogin, die im Auftrag des Amtes die Mutter betreute. Sie bat die Pädagogin, die für einen privaten Dienstleister arbeitet, Sindy P. zu besuchen und sich ein Bild von der Situation zu machen. Eine intensive Betreuung gab es zu dem Zeitpunkt nicht, vorgesehen waren nur sporadische Besuche. Sindy P. habe zwar immer wieder Schwierigkeiten bei der Erziehung ihrer Kinder gehabt. Sie galt beim Amt bis dato aber nicht als schwieriger Fall.
Der Sozialpädagogin gelang es zunächst nicht, mit Sindy P. Kontakt aufzunehmen. Am 21. April traf die Betreuerin die Mutter dann aber in der Wohnung an. Mit dabei war auch eine städtische Mitarbeiterin, die für die Obdachlosenwohnungen zuständig ist. Hinterher schrieb die Pädagogin in einem Bericht für das Amt, die Kinder seien „sauber und normal entwickelt“. Im Jugendamt sorgte das für Entwarnung. Zumal die Pädagogin ihren Eindruck auch in einem Telefonat bekräftigte. Tatsächlich hatte sie aber nur die beiden älteren Kinder richtig gesehen. Je- remy lag scheinbar schlafend in einem abgedunkelten Zimmer. Die Sozialpädagogin warf einen Blick ins Zimmer, bemerkte aber nicht den Zustand des Jungen, der da schon schlecht gewesen sein muss.
Die Mitarbeiterin des Jugendamtes war dann am 30. April auch noch selbst in der Wohnung. Um abzuklären, welche Hilfen die Mutter brauchen könnte. Auch sie sah die Geschwister von Jeremy – und sie bemerkte, dass sich beide psychisch auffällig verhielten und vernachlässigt wirkten. Die Jugendamts-Mitarbeiterin forderte Sindy P. auf, mit ihren Kindern umgehend zum Arzt zu gehen. Den kleinen Jeremy schaute sie sich nicht genauer an. Er lag auch bei ihrem Besuch im Bett. Sie verließ sich auf den positiven BeGeschwister, richt der Sozialpädagogin, die neun Tage zuvor da gewesen war.
Erst am 4. Mai wurde dann klar, wie es Jeremy wirklich ging. Dass sein Körper massiv abgemagert und ausgetrocknet war. Die Jugendamts-Mitarbeiterin sagt, sie habe an diesem Tag das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimme. Zumal sich Jeremys Vater meldete und berichtete, dass Sindy P. ihn nicht zu seinem Sohn gelassen habe, obwohl das so vereinbart war. Die Mitarbeiterin fuhr mit einer Kollegin zu der Wohnung, ließ sich das Baby zeigen und war entsetzt. Sie fuhr sofort mit Jeremy in die Notaufnahme.
Ein Arzt sagt, Jeremy sei „viel zu klein und viel zu leicht“für sein Alter gewesen. Er hatte trockene, ledrige Haut und kein Fettgewebe mehr. Er konnte weder sitzen noch aus eigener Kraft den Kopf halten. „Er lag einfach nur da“, erzählt der Arzt. „Er hat nicht mal geschrien, als wir ihm eine Infusionsnadel setzten.“Jeremys Vater, ein Asylbewerber aus Nigeria, blieb in der Klinik Tag und Nacht bei dem Jungen. In der Klinikakte ist vermerkt, er habe sich „sehr fürsorglich“gekümmert. Sindy P. kam nur drei Mal zu Besuch. Seit Herbst sitzt sie in Untersuchungshaft. Die Anklage wirft ihr Mordversuch vor. Nächste Woche könnte ein Urteil fallen.