Briten kehren Europa den Rücken
Brexit Eine knappe Mehrheit stimmt für den Austritt aus der EU. Das kostet nicht nur Premierminister David Cameron seinen Job, sondern löst auch wirtschaftliche und politische Turbulenzen aus
Augsburg Bis zuletzt hatte keiner so recht daran glauben wollen, seit gestern früh gibt es keine Zweifel mehr: Erstmals kehrt ein Mitgliedstaat der Europäischen Union den Rücken. Die Briten haben sich mit der knappen Mehrheit von 51,9 Prozent für den Austritt ihres Landes ausgesprochen. Es ist eine historische Zäsur. Europa steht unter Schock, und der Mann, der die Idee zum Referendum hatte, steht vor dem politischen Aus: Premierminister David Cameron wollte mit der Abstimmung die Kritiker in den eigenen Reihen beruhigen und wird nun für immer der Mann sein, der nicht nur die EU, sondern auch sein eigenes Land vor eine Zerreißprobe gestellt hat. Gestern Vormittag trat Cameron in London vor die Kameras und verkündete seinen Rücktritt als Regierungschef und Vorsitzender der britischen Konservativen im Oktober.
Das Beben erschüttert ganz Europa. In vielen Mitgliedsländern herrscht Fassungslosigkeit. Immer wieder ist die Rede von einem drohenden Dominoeffekt. Populistische Bewegungen fordern nun Volksabstimmungen auch in anderen EU-Staaten. Sie hoffen auf eine Austrittswelle. Die Staats- und Regierungschefs, die sich am Dienstag zum Krisengipfel treffen, wollen das unbedingt verhindern.
Der Brexit hat auch die Finanzmärkte kalt erwischt. Dort hatte man eher mit dem Verbleib Großbritanniens in der EU gerechnet. Umso heftiger fiel der gestrige Absturz aus. Der Deutsche Aktienindex, der die 30 wichtigsten Börsenunternehmen des Landes zusammenfasst, rauschte zeitweise um fast zehn Prozent nach unten. Bis zum Abend konnte er nur einen Teil der Verluste wieder gutmachen.
Das britische Pfund verlor ebenfalls dramatisch an Wert und rutschte auf den niedrigsten Stand seit mehr als 30 Jahren. Börsianer fürchten nun schwere wirtschaftliche Konsequenzen – nicht nur für die Insel, sondern auch für die Handelspartner auf dem europäischen Festland. Großbritannien ist für deutsche Unternehmen einer der wichtigsten Märkte.
Die Volksabstimmung facht aber auch die Diskussionen um Reformen der EU weiter an. Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer forderte „eine bürgernahe Europäische Union, in der die nationale Identität und die Eigenständigkeit der Regionen gewahrt bleiben“. Brüssel solle sich um die „großen Fragen unserer Zeit“kümmern und sich nicht in kleinteiligen Fragen verzetteln, sagte der CSU-Vorsitzende.
Bis die Briten die EU tatsächlich verlassen, dürfte es im Übrigen noch dauern. In einem ersten Schritt werden nun Austrittsverhandlungen aufgenommen. Diese dürften ziemlich kompliziert werden. Es geht ja nicht nur um die politischen, sondern auch um die wirtschaftlichen
In den Verhandlungen geht es jetzt auch ums Geld
Beziehungen – also ums Geld. Artikel 50 des EU-Vertrags sieht vor, dass die Mitgliedschaft eines Landes automatisch endet, falls diese Gespräche nach zwei Jahren nicht abgeschlossen sind. Die Frist kann allerdings auch verlängert werden.
Die Stimmung in Großbritannien ist nun explosiver denn je. 72 Prozent der Briten haben abgestimmt. Aber das Land ist gespalten: in Brexit-Befürworter und -Gegner, in die europafreundliche Jugend und die europaskeptischen Älteren. Zudem wird das Ergebnis in den verschiedenen Landesteilen extrem unterschiedlich bewertet. Während in England und Wales Partystimmung ausbrach, denkt man in Schottland und Nordirland nun sogar über die Abspaltung vom Königreich nach.