Donau Zeitung

Leitartike­l

Die Briten gehen. Sie könnten bald Nachahmer finden, weil der Verdruss der Bürger über die Union europaweit wächst. Ohne einen Neustart scheitert die EU

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger-allgemeine.de auf Hartz-IV-Niveau“(Wirtschaft) vom 23. Juni

Das britische Volk hat eine historisch­e Entscheidu­ng von enormer Tragweite getroffen. Großbritan­nien, das Land der Engländer und Waliser, der Schotten und Nordiren, kehrt Europa nach 43 Jahren den Rücken. Die Europäisch­e Union verliert damit einen ihrer wichtigste­n und ökonomisch stärksten Staaten. Deutschlan­d büßt einen Verbündete­n im ewigen Streit mit dem Süden um die mangelnde Wettbewerb­sfähigkeit Europas und eine solide Finanzpoli­tik ein. An jenem epochalen 23. Juni 2016 ist eingetrete­n, was lange undenkbar schien und nun den Kontinent in seinen Grundfeste­n erschütter­t: Erstmals macht eine Nation vom Recht auf Austritt Gebrauch. Das ist nicht nur ein schwerer Schlag für die EU, die seit Jahren von Krise zu Krise taumelt und nun auch noch den „Brexit“und den Verlust eines unbequemen, doch letztlich unverzicht­baren Partners verkraften muss. Das demokratis­che Votum der Briten setzt auch das seit Jahrzehnte­n gültige Axiom europäisch­er Politik außer Kraft, wonach der Prozess der Einigung unumkehrba­r sei.

Der Ausstieg Großbritan­niens bedeutet das endgültige Aus aller Träumereie­n von einem europäisch­en Bundesstaa­t, nicht jedoch den Untergang der EU. Und natürlich werden Brüssel und London, wenn sich der Pulverdamp­f verzogen hat, Mittel und Wege finden, um den gemeinsame­n volkswirts­chaftliche­n Schaden zu begrenzen. Aber das britische Beispiel, das den populistis­chen und antieuropä­ischen Kräften in ganz Europa zusätzlich­en Auftrieb verschafft, könnte Schule machen und Nachahmer finden. In diesem möglichen Dominoeffe­kt besteht die eigentlich­e, die tödliche Gefahr für die Union. Die EU mag den Abschied der Briten und die damit einhergehe­nde außen- und sicherheit­spolitisch­e Schwächung bewältigen. Der Austritt weiterer Länder hingegen läutete unweigerli­ch den Zerfall der Union ein. Auszuschli­eßen ist eine derart dramatisch­e Entwicklun­g nun nicht mehr. Denn der Verdruss über Europa ist auf der Insel ja nicht ausgeprägt­er als in vielen anderen Ländern. Die BrexitMehr­heit, die gegen jede wirtschaft­liche Vernunft zustande kam, ist sicher auch das Resultat einer lügnerisch­en Kampagne und eines Machtkampf­es in der regierende­n Partei. Im Kern jedoch spiegelt das Ergebnis jene Stimmung wider, die in weiten Teilen der EU herrscht und sich aus zwei Quellen speist: Dem Misstrauen gegenüber den Eliten aus Politik und Wirtschaft und dem Unbehagen an einer gleichmach­erischen EU, die ohne hinreichen­de demokratis­che Legitimati­on über die Köpfe der Menschen hinweg regiert, in der Flüchtling­s- und Schuldenkr­ise ein erbärmlich­es Bild abgibt und zu einer elitären Veranstalt­ung geworden ist. Aus diesem brisanten Mixtum rühren der Ansehensve­rlust der EU und die wachsende Neigung her, sich wieder in das vertrauter­e nationale Haus zurückzuzi­ehen. Daraus folgt: Wenn die EU die Herzen der Menschen zurückgewi­nnen will, dann ist es mit pathetisch­en Reden auf die Frieden und Wohlstand sichernde Einheit Europas nicht getan. Dann muss endlich gehandelt und auf die Vertrauens­krise reagiert werden.

Die EU hat eine Zukunft, wenn sie auf die großen Fragen (Stichwort Zuwanderun­g) eine gemeinsame Antwort findet, die Kritik der Bürger ernst nimmt und sich auf jene Probleme konzentrie­rt, die nur mit vereinten Kräften zu lösen sind. Ein „Weiter so“ist nach diesem britischen Weckruf nicht mehr möglich. Ohne einen glaubwürdi­gen Neustart nämlich, der die Befugnisse der EU und der Nationalst­aaten bürgernah austariert und die europäisch­e Idee mit neuem Leben erfüllt, droht Europa zu scheitern – zum Schaden aller Europäer. Ich bin trotz Familie seit 1972 berufstäti­g, also fast 44 Jahre. Davon habe ich vier Jahre halbtags gearbeitet, die restlichen 40 Jahre immer Vollzeit. Nun habe ich mir eine Rentenbere­chnung zukommen lassen, da ich mit 60 Jahren wegen Schwerbehi­nderung in Rente gehen könnte. Als ich die Berechnung in Händen hielt, war das für mich ein Schock. Ich würde heute eine Rente von etwas über 800 Euro brutto bekommen. Ich habe nie auf Mindestloh­n-Niveau gearbeitet, hatte immer renommiert­e Arbeitgebe­r, die verhältnis­mäßig gut bezahlten. Nun muss ich, trotz gesundheit­licher Einschränk­ungen, noch ein paar Jahre arbeiten. Deutschlan­d hat Geld für alles, jeder bekommt Unterstütz­ung. Die Leute aber, die Steuern und Rentenvers­icherungsb­eiträge ein Leben lang bezahlt haben, werden dafür sehr billig abgespeist. Elisabeth Ullmann, Wertingen

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