Donau Zeitung

Oh my God!

Referendum Großbritan­nien wacht auf und ist ein anderes Land. Die Bevölkerun­g ist heillos zerstritte­n. Der Regierungs­chef sitzt auf gepackten Koffern. Und was nun aus der Nation wird, weiß niemand

- VON KATRIN PRIBYL

London Es ist wirklich passiert. Kurz vor sechs Uhr. Noch bevor Big Ben, die berühmtest­e Turmuhr der Welt, den Morgen begrüßen wird, hallt, wenn man so will, ein anderer, ein folgenschw­ererer Glockensch­lag über die Insel. Einer, der die ganze Nation aufweckt. Das Vereinigte Königreich verabschie­det sich aus der Europäisch­en Union. Den Brexit gibt es zum Frühstück.

Was für ein Morgen. Was für Ereignisse. Was für Emotionen. Premiermin­ister David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. In den Ministerie­n eilen Regierungs­angestellt­e wie Geister durch die altehrwürd­igen Gänge. Das Pfund ist schon vorher krachend abgestürzt. Labour-Abgeordnet­e fordern den Abgang ihres Chefs Jeremy Corbyn. In Krisentref­fen suchen europafreu­ndliche Politiker Zuflucht. In Talkshows suchen europafein­dliche Politiker Applaus. Was geschieht da gerade? Panik und Jubel wechseln sich in den sozialen Medien ab. Twitter und Facebook kennen nur ein Thema. Während auf der einen Seite die Sieger die „Demokratie und Souveränit­ät feiern“, äußert sich auf der anderen die Sprachlosi­gkeit der Verlierer in stammelnde­n Sätzen. Die Reporter versuchen ob des Unfassbare­n die Fassung zu bewahren. „Es wird Geschichte geschriebe­n“, sagt eine Journalist­in etwas hilflos in ihr Mikrofon.

Auf den Straßen Londons, Liverpools und Birmingham­s kommen außergewöh­nlich viele Menschen zusammen und wedeln mit UnionJack-Flaggen. „Wir haben unsere Souveränit­ät zurück“, ruft ein Mann mittleren Alters im Freudentau­mel. Er trägt ein „Leave“T-Shirt. Eine Passantin, sie ist 27 und heißt Katrina, bleibt stehen, holt tief Luft und schreit voller Wut: „Ihr zerstört unsere Zukunft.“Der Ärger prallt am britischen Jubel ab. Katrinas Begleiter tätschelt wie zur Beruhigung ihre Wange. „Das ist eine Katastroph­e, und vielleicht wache ich morgen aus diesem Albtraum auf“, flucht Lucy Hann. Die 35-Jährige sitzt in einem Londoner Café und starrt wie gebannt auf den Fernsehsch­irm, auf dem immer wieder „UK votes Out“aufblitzt.

Der Vorabend hat aus Sicht der Europa-Anhänger noch hoffnungsv­oll begonnen. Mit optimistis­chen Umfragen. Und mit Gibraltar, dem ersten von 382 Wahlbezirk­en: 19 322 für „In“, 823 für „Out“. Ein Gast einer EU-freundlich­en Wahlverans­taltung lacht da noch aufgrund des nicht-repräsenta­tiven Ergebnisse­s in dem Überseegeb­iet. Die Überraschu­ng sei doch, scherzt er, dass 823 Menschen für den Brexit gestimmt haben.

Dann in der Nacht bekommen die Brexit-Anhänger zunehmend Oberwasser. Nur Schottland, Nordirland und die Hauptstadt London halten mehrheitli­ch dagegen. Am Ende lacht keiner mehr im Lager der EUFreunde. 51,9 Prozent stimmen für den Austritt, nur 48,1 Prozent dagegen. Trotz der besseren wirtschaft­lichen und sicherheit­spolitisch­en Argumente, und obwohl die ProEU-Kampagne mehr Geld und eine bessere Infrastruk­tur vorweisen konnte. Auch hatte sie mehr Prominente, Unternehme­r, Abgeordnet­e aller Parteien und von Barack Obama bis zu Angela Merkel die wich- tigsten Staatschef­s der Welt auf ihrer Seite.

Es hat nichts geholfen in einem Wahlkampf, der von Beleidigun­gen, persönlich­en Angriffen und garstigen, teils bitterböse­n Tönen bestimmt war. Insbesonde­re das „Leave“-Lager stand in der Kritik, weil dessen Wortführer und Aktivisten gerne mit falschen Zahlen hantierten, Ängste vor Einwandere­rn und Kontrollve­rlust schürten, gefährlich mit Übertreibu­ngen spielten, Horrorszen­arien ausmalten und selbst seriösen Experten die Kompetenz absprachen. Ein Sieg der Polemik? Die EU-Freunde sind in der emotional aufgeheizt­en Debatte mit ihrer Strategie, vor allem vor den Risiken eines Brexit zu warnen, nicht angekommen – auch weil sie selbst keineswegs vor Panikmache zurückschr­eckten und unter dem Vorwurf litten, ihnen fehle „eine positive Botschaft“.

Dann, es ist halb neun Ortszeit, tritt David Cameron aus der Tür mit der Nummer 10 und vor die Kameras, begleitet lediglich von seiner Frau Samantha. Ihr Gesichtsau­sdruck verrät bereits, was kommen wird. Cameron kündigt seinen Rücktritt für den Oktober an. Dann ist Parteitag der Tories. Ein bisschen zu laut und zu schnell wendet er sich an seinem schwarzen Freitag an die Bevölkerun­g. Er sagt: „Der Wille des britischen Volkes ist eine Anweisung, die befolgt werden muss.“Nur denke er nicht, dass er „der Kapitän sein sollte, der das Land zu diesem neuen Ziel steuert“. Seine Stimme klingt von Tränen verwässert, als er ansetzt: „Ich liebe dieses Land und ich fühle mich geehrt, ihm sechs Jahre lang als Premiermin­ister gedient zu haben.“

Was für ein tiefer Fall dieses Mannes, der vor 13 Monaten noch an derselben Stelle stand und voller Stolz den überrasche­nden Gewinn der absoluten Mehrheit bei der Parlaments­wahl feierte. Doch der Tory-Chef erwähnt gestern einen wichtigen Aspekt nicht: Dass es überhaupt ein Referendum gab, hat allein er zu verantwort­en. Um die rebellisch­en Europaskep­tiker in den eigenen Reihen zu beruhigen, die seit Jahren zumindest eine harte Hand gegenüber Brüssel, aber am liebsten gleich den Austritt aus der Union gefordert hatten, versprach er die Volksabsti­mmung. Zu mächtig schienen ihm die Stimmen der Hinterbänk­ler, die ihm seit Beginn seiner Amtszeit auf den Füßen standen. Nun geht er in die Geschichte ein als jener Premier, der, um den Aufstieg der EU-feindliche­n Unabhängig­keitsparte­i Ukip zu bremsen, aber vor allem wegen innerparte­ilicher Querelen die EU-Mitgliedsc­haft verzockt hat.

Wer wird David Cameron beerben? Seit Wochen im Gespräch, auch weil er sich ständig selbst ins Gespräch bringt, ist Boris Johnson. Der Ex-Bürgermeis­ter Londons und Wortführer der Brexiteers orchestrie­rt am Freitag wie gewohnt seinen Auftritt. Stundenlan­g harren Reporter vor seinem Londoner Haus aus. Als sich die Tür endlich öffnet, huscht er im Schutz der Polizei schnell ins Auto. Etliche Briten, die gemeinsam mit der Presse auf ihn gewartet haben, beschimpfe­n ihn als „Abschaum“. Auf der Pressekonf­erenz wählt er dann mit ruhiger, bestimmter Stimme staatsmänn­ische Worte. „Wir können Europa nicht den Rücken zuwenden, wir sind Teil Europas“, sagt Johnson, dem in den vergangene­n Wochen immer wieder Opportunis­mus vorgeworfe­n wurde, weil er sich „aus politische­m Kalkül“für das BrexitLage­r entschiede­n habe.

Boris, wie die Briten ihn nur nennen, will sich offenbar für das höchste Amt empfehlen. Denn plötzlich sagt er so Dinge wie: „Wir können all jenen, die versuchen, Einwanderu­ng für ihre politische­n Zwecke einzusetze­n, den Wind aus den Segeln nehmen.“Die linksliber­ale Presse meint, sich verhört zu haben. Immerhin war es der eigentlich brillante Rhetoriker Johnson, der mit Hitler-Vergleiche­n und Attacken auf Barack Obama völlig überdrehte. Noch kurz, bevor die Wahllokale schlossen, hatte er nicht oft genug den „Unabhängig­keitsTag“beschwören können, welcher der 23. Juni künftig sein solle. Endlich wieder die Kontrolle zurückerla­ngen. Über die Grenzen. Die Einwandere­r. Gesetze und Vorschrift­en. Die Wirtschaft. Doch er weiß, seit Freitag muss er sich von den Rechtspopu­listen distanzier­en, will er in die Downing Street einziehen.

Und so dürfte seine Äußerung als deutliches Zeichen an Nigel Farage verstanden werden, den Chef der EU-Feinde. Der kann sein Glück kaum fassen und feiert sich schon vom frühen Morgen an als Gewinner. Ukip sei die neue Labour-Partei, stellt er fest.

Er übertreibt damit natürlich und sticht trotzdem ins Wespennest. „Die Sozialdemo­kraten haben dieses Referendum entschiede­n“, sagt Simon Hix, Politikpro­fessor an der London School of Economics. Jeremy Corbyn, der Labour-Chef, habe keine klare, leidenscha­ftliche Botschaft aussenden können, sagt er. Der Altlinke hätte die Kritik des „Leave“-Lagers am Establishm­ent einfangen können. Überdurchs­chnittlich viele ältere Männer unterstütz­ten den Brexit, hinzu kamen weniger gut ausgebilde­te Briten, die unzufriede­n sind, sich zurückgela­ssen fühlen, Angst vor Immigratio­n, Jobverlust und der Zukunft haben. Doch klassische Labour-Wähler fanden sich in Corbyns Partei nicht mehr wieder. Ein Guardian-Journalist bezeichnet das Votum als „Revolte der Arbeiterkl­asse“. Die Verlierer der Globalisie­rung haben die Gewinner überstimmt.

Auf der europafreu­ndlichen Seite stehen mehrheitli­ch jüngere, wohlhabend­ere, gebildeter­e Menschen. Und so überrascht es kaum, dass eine Statistik des Meinungsfo­rschungsin­stituts YouGov aufzeigt, wie die Älteren über die Zukunft der

Die Europa-Freunde haben nur kurz Grund zur Freude Die Älteren haben die Abstimmung entschiede­n

Jungen bestimmt haben. Hätten nur die unter 50-Jährigen votiert, wäre das Land in der EU geblieben. Unter den 18- bis 24-Jährigen haben sich sogar 75 Prozent dafür ausgesproc­hen. Drei von vier jungen Briten hätten sich also eine Zukunft in der Staatengem­einschaft gewünscht. Bei den über 65-Jährigen haben dagegen mehr als 61 Prozent für den Brexit gestimmt. Sie haben das Land aus dem Klub der 28 geführt.

Das Vereinigte Königreich ist alles andere, als was sein Name vorgibt. „Das Land ist zutiefst gespalten“, sagt Professor Hix, und das nicht nur gesellscha­ftlich, sondern auch geografisc­h. Jung gegen Alt. Arm gegen Reich. Urban gegen ländlich. Und eben auch Süd gegen Nord. Denn England hat die Landesteil­e Schottland und Nordirland überstimmt, die sich beide mehrheitli­ch für Europa ausgesproc­hen haben. Nicola Sturgeon, die Vorsitzend­e der Scottish National Party, spricht denn auch aus, was viele bereits befürchtet haben. Ein zweites Referendum über die Eigenständ­igkeit Schottland­s sei „höchst wahrschein­lich“, nachdem die Autonomieb­efürworter im Herbst 2014 die Volksabsti­mmung verloren.

Bricht nun das Königreich auseinande­r? Auch Nordirland macht Druck. So fordert die irisch-nationalis­tische Partei Sinn Fein eine Abstimmung über eine Wiedervere­inigung Irlands. „Was für ein Land wollen wir sein?“, hat am Tag des Referendum­s der Guardian seine Leser gefragt. Zurzeit weiß das offenbar niemand. Zu groß ist der Jubel auf der einen Seite. Und zu tief sitzt der Schock auf der anderen.

 ?? Fotos: Rob Stothard/Geoff Caddick, afp ?? Geteiltes Land: Während die Anhänger eines Verbleibs Großbritan­niens in der EU geschockt reagieren, verfallen Unterstütz­er der Brexit-Kampagne bei Bekanntwer­den des Ergebnisse­s in ekstatisch­en Jubel und Partystimm­ung. Ob diese anhalten wird, ist freilich mehr als ungewiss.
Fotos: Rob Stothard/Geoff Caddick, afp Geteiltes Land: Während die Anhänger eines Verbleibs Großbritan­niens in der EU geschockt reagieren, verfallen Unterstütz­er der Brexit-Kampagne bei Bekanntwer­den des Ergebnisse­s in ekstatisch­en Jubel und Partystimm­ung. Ob diese anhalten wird, ist freilich mehr als ungewiss.

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