Muss Cameron vor der Tür warten?
Hintergrund Zum ersten Mal verlässt ein Land die Europäische Union. Nur: Wie geht das eigentlich? Ob der britische Premier noch mitreden darf und welche Rolle Angela Merkel spielt
Brüssel Draußen heißt draußen. Das haben führende EU-Politiker in den vergangenen Tagen immer wieder betont. Bisweilen klang das wie eine Drohgebärde, um die Briten doch noch zur Vernunft zu bringen. Geholfen hat es nichts. Großbritannien hat sich für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Und trotz des Schocks bemühte man sich gestern in Brüssel, Entschlossenheit zu demonstrieren. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker machte als Erster klar, dass die Zeit des Taktierens vorbei ist: „Wir erwarten nun von der Regierung des Vereinigten Königreiches, dass sie die Entscheidung des britischen Volkes so schnell wie möglich umsetzt – so schmerzhaft der Prozess auch sein mag. Jede Verzögerung würde die Unsicherheit unnötig verlängern.“
Aber wie tritt man eigentlich aus der EU aus? Bisher standen die Länder nur Schlange, um hineinzukommen. Die Briten gehen als Erste den umgekehrten Weg. Die Angst vor einem jahrelangen zersetzenden Tauziehen um jede Regelung eines Auflösungsvertrages ist groß. Premier David Cameron hat sie mit seiner Ankündigung, im Oktober zurückzutreten, zusätzlich geschürt. Der Initiator des Brexit-Referendums will den Abschied seines Landes scheint’s seinem Nachfolger überlassen – und auf den müssen sich die regierenden Tories erst einmal einigen. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) tobte ob dieser Verzögerung gestern: Damit werde ein ganzer Kontinent aus parteitaktischen Gründen „in Geiselhaft genommen“.
Am liebsten wäre es der EU-Spitze, wenn Cameron am Dienstag zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschef anreisen würde und bereits da persönlich den Antrag auf den Austritt aus der EU stellt. Anschließend, so heißt es, werde die Gipfelrunde dann über die Konsequenzen und Form des Brexit diskutieren. Schon der zweite Gipfeltag am Mittwoch könnte dann ohne Cameron stattfinden. „David, wait outside“, soll Gipfel-Chef Donald Tusk den bisherigen Kollegen dann auffordern, draußen zu warten.
Kann es die Rest-EU gar nicht abwarten, bis der Brexit vollzogen wird? Nein, im Hintergrund steht eher die Angst, London könne mit einer „unüberlegten Erklärung“(Tusk) die Europäer vor vollendete Tatsachen stellen und ohne ordentliche Loslösung nach Artikel 50 des „Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union“seine Mitgliedschaft kündigen. „Wir haben dazu ein geordnetes Verfahren“, betont Juncker. Er will das Heft in der Hand behalten und offenbar schon am Wochenende seine Beamten daran setzen, die Gespräche mit London vorzubereiten. Am Montag will er der Öffentlichkeit dann konkrete Vorgaben präsentieren. Parallel dazu kommen auf Einladung von Bundeskanzlerin Angela Merkel der französische Staatspräsident François Hollande, Italiens Premier Matteo Renzi und Ratspräsident Donald Tusk in Berlin zusammen.
Die Erwartungen an ein funktionierendes Krisenmanagement der Mitgliedstaaten ist groß. Im Zentrum steht einmal mehr die Kanzlerin, von der sich viele „Führung und Inspiration“erwarten. „Merkel muss die starken Partner wie Frankreich, Italien, die Niederlande und Polen um sich scharen und klarmachen, dass Europa unverzichtbar ist“, sagte ein hochrangiger EUDiplomat. Das wird nicht einfach, schließlich geht es auch um die Finanzen: Die verbleibenden 27 müssen die bisherigen britischen Mitgliedsbeiträge übernehmen und aufteilen. Zugleich wird es um die Frage gehen, welche Lehren die Union aus dem Referendum zieht.
Angelika Niebler, Chefin der CSU-Abgeordneten im Europaparlament, hat da konkrete Vorstellungen: „Wir müssen weg von der Regulierungswut.“Die Politik, fordert Niebler, müsse sich intensiv damit befassen, warum die EU bei vielen Menschen einen schlechten Ruf hat. Brüssel hat dabei keine Zeit zu verlieren. Nur Stunden nach der Bekanntgabe des Ergebnisses in London frohlockten Vertreter rechter und nationalistischer Gruppierungen in einigen Mitgliedstaaten. „Die Rechtspopulisten wollen zurück zu Nationalstaaten und raus aus der Gemeinschaft. Ich hoffe, dass wir die Kraft haben, dagegenzuhalten“, sagt Niebler. Sie spricht aus, was viele denken an diesem Tag.
Juncker muss jetzt das Heft in die Hand nehmen