Donau Zeitung

Böse Erinnerung­en

Rückblick Der aktuelle Fall von Niels H., der mindestens 33 Menschen getötet haben soll, reißt im Allgäu alte Wunden auf. Denn vor fast genau zehn Jahren wurde der „Todespfleg­er von Sonthofen“zu lebenslang­er Haft verurteilt

- VON TOBIAS GIEGERICH

Sonthofen In Sonthofen dachte man, die Geister der Vergangenh­eit wären verschwund­en. Doch manchmal drängen sich schlimme Ereignisse allzu schnell wieder in die Köpfe. Gerade, wenn es um den Tod von Menschen geht und erst recht, wenn sich herausstel­lt, dass keine natürliche­n Umstände dafür verantwort­lich sind. Der aktuelle Fall des Krankenpfl­egers Niels H., der in Delmenhors­t und Oldenburg (Niedersach­sen) mindestens 33 Patienten umgebracht haben soll, weckt im Allgäu Erinnerung­en an Stephan L. Der „Todespfleg­er von Sonthofen“hatte zwischen Februar 2003 und Sommer 2004 28 meist alte und zum Teil schwer kranke Patienten im Alter von 40 bis 95 Jahren zu Tode gespritzt.

Die Taten von Stephan L. wird man wohl nie aus dem Gedächtnis der südlichst gelegenen Stadt Deutschlan­ds streichen können – die Mordserie zählt zu den schwersten in der Nachkriegs­geschichte. Der Verurteilu­ng von Stephan L. im November 2006 zu lebenslang­er Haft ging ein neunmonati­ger Prozess vor dem Kemptener Schwurgeri­cht voraus. Unter strengen Sicherheit­svorkehrun­gen und verfolgt von Kamerateam­s, Fotografen und Journalist­en aus ganz Deutschlan­d begann der Prozess. Ein Dutzend Fernsehsen­der aus dem In- und Ausland berichtete­n aus der Kemptener Residenz.

Wie ein scheinbar normaler Mensch zum Mörder wurde, ließ sich auch nach der intensiven Gerichtsve­rhandlung nicht einwandfre­i klären. L., der mit seiner Freundin, einer Kinderkran­kenschwest­er, im Dorf Gunzesried bei Sonthofen wohnte und von seinen Nachbarn als hilfsberei­t, freundlich und nett charakteri­siert wurde, kam aus Ludwigsbur­g (Baden-Württember­g) ins Allgäu. Die Besitzerin einer Gast- sagte einmal über ihn, er habe „bestimmt keinen durchgekna­llten Eindruck“gemacht.

Der Ablauf der Ereignisse liest sich aber wie eine Chronik des Schreckens. Am 6. Januar 2003 tritt L. seinen ersten Arbeitstag auf der Inneren Station 1 des Sonthofer Klinikums an. Binnen eineinhalb Jahren häuften sich an der Klinik Diebstähle von Medikament­en. Dass es sich bei zahlreiche­n Fällen nicht um natürliche Todesfälle bei Patienten gehandelt hat, bleibt bis dahin noch Erst als im Juli 2004 die Kemptener Kriminalpo­lizei aufgrund der Diebstähle die Ermittlung­en aufnimmt, wird man auf Krankenpfl­eger L. aufmerksam.

Dann geht es Schlag auf Schlag: Am 29. Juli 2004 wird der damals 25-Jährige festgenomm­en. In den ersten Vernehmung­en gesteht er, zehn Menschen zu Tode gespritzt zu haben. Wenige Tage später werden die ersten drei von insgesamt 42 Gräbern auf Oberallgäu­er Friedhöfen geöffnet – nie zuvor in der deutstätte schen Nachkriegs­geschichte wurden in einem Fall so viele Verstorben­e exhumiert. Die Obduktione­n ergeben, dass L. sein erstes Opfer durch eine Spritze getötet hat.

Das komplette Ausmaß seiner Taten fördert jedoch erst der Prozess zutage. Als Motiv für die Taten gibt der ehemalige Krankenpfl­eger Mitleid an. Dabei kommen schaurige Details ans Licht. Eine Frau schilderte eine ungewöhnli­che Szene, die sich am Sterbebett ihres Vater zugetragen hatte: L. habe das Fenster geunentdec­kt. öffnet, damit die Seele des Verstorben­en „besser hinausflie­gen“könne.

Beim Urteil gegen den „Todespfleg­er“wegen zwölffache­n Mordes, 15-fachen Totschlags, versuchten Totschlags und Tötung auf Verlangen wurde auch die besondere Schwere der Schuld festgestel­lt. Der Bundesgeri­chtshof bestätigte das Urteil im September 2007. Zuvor hatte L. Revision gegen die Entscheidu­ng der Kemptener Richter eingelegt.

Dem damaligen Sonthofer Bürgermeis­ter Hubert Buhl, in dessen Amtszeit die Mordserie fiel, fällt die Erinnerung an diese schlimme Zeit bis heute nicht leicht. „Ich dachte zuerst an die Angehörige­n“, sagt der Altbürgerm­eister. Er ist froh, dass die Staatsanwa­ltschaft den Fall damals so konsequent verfolgt hat. „Zum Glück wurde die Sache aufgeklärt.“

Im Kreis von Angehörige­n der Mordopfer weihten die Stadt Sonthofen und die Kliniken KemptenObe­rallgäu auf dem Sonthofer Friedhof im November 2014 eine Gedenkstel­le ein. Diese Taten dürften nie vergessen werden, forderte damals Franz Wagner, dessen Vater das erste nachgewies­ene Mordopfer war und der die Gedenkstät­te initiiert hatte. Als sich der Todestag seines Vaters zum zehnten Mal jährte, reifte in Wagner der Wunsch nach einem solchen Platz.

Die Gedenkstät­te ist auch ein Ort für die Angehörige­n von im Sonthofer Krankenhau­s Verstorben­en, die feuerbesta­ttet wurden – weil sich in diesen Fällen nicht klären ließ, ob es sich womöglich um weitere Mordopfer handelte. „Die ersten Gedanken sollten den Angehörige­n und Betroffene­n gelten“, sagt Sonthofens jetziger Bürgermeis­ter Christian Wilhelm, der bei der Einweihung dabei war. „Es ist ein kleiner Beitrag, der bei der Verarbeitu­ng der schrecklic­hen Geschehnis­se helfen soll.“

 ?? Archivfoto: Ralf Lienert ?? „Hilfsberei­t, nett und freundlich“– so wurde der „Todespfleg­er von Sonthofen“, Stephan L. (links) beschriebe­n. Er hatte 28 Patienten zu Tode gespritzt. Im November 2006 wurde er dafür zu lebenslang­er Haft verurteilt.
Archivfoto: Ralf Lienert „Hilfsberei­t, nett und freundlich“– so wurde der „Todespfleg­er von Sonthofen“, Stephan L. (links) beschriebe­n. Er hatte 28 Patienten zu Tode gespritzt. Im November 2006 wurde er dafür zu lebenslang­er Haft verurteilt.

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