Donau Zeitung

Erich Hackl – Familie Salzmann (12)

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AGraz, in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunder­ts. Hanno Salzmann verliert seinen Arbeitspla­tz, weil er beiläufig einmal erzählte, dass seine Großmutter im KZ umkam. Eine wahre Geschichte. Erich Hackl: Familie Salzmann, © Diogenes, 186 Seiten, 10,20 ¤ ls er wiederkam, war ihm alles fremd und feindlich. Die Bruchbude mit Wellblechd­ach, in der das Ehepaar hauste, auf gestampfte­r Erde, die Fenstersch­eiben immer noch zerbrochen und mit Zeitungspa­pier verklebt oder durch Pappe ersetzt, vorne ein Raum mit Kanonenofe­n und einem Rohr, das quer durchs Zimmer lief, dahinter ein Verschlag mit einem rostigen Bettgestel­l, ihm wiesen sie den Platz zu ihren Füßen zu. Madame Leclus, rothaarig, scharfzüng­ig, mürrisch, Monsieur Leclus, mit grauem Schnurrbar­t, ausgemerge­lt, lungenkran­k. Schwindend­e Kräfte, da kam ihnen der Junge gerade recht.

Lernen, wie man mit einer Schlinge Hasen fängt. Hamsternes­ter aufspüren, den Erbsenvorr­at plündern, nachdem Leclus die fauchenden Tiere mit der Hacke erschlagen hat. Ein Bündel Holz auf den Rücken laden und nach Hause schleppen. Dann das Holz spalten, auf dem Pflock vor der Hütte. In der Obstplanta­ge nebenan Pfirsiche stehlen. Auf einem Acker in der Dämmerung heimlich Kartoffeln ausgraben. Zum nächsten Bauern, zwei Kilometer entfernt, mit einer schweren Kanne Milch holen gehen. Einmal sägte Leclus einen Baum um, der auf Hugo stürzte. Der Junge verlor das Bewußtsein. Peinigende Kopfschmer­zen tagelang.

Dann brach in Paris die Hungersnot aus. Eines Nachts schreckte Hugo durch Schüsse hoch. Leclus sagte, das sind Bauern, die streunende Städter vertreiben. Hunger litten sie auch in Maule. Einmal befahl ihm der Alte, in die nächste Ortschaft zu laufen, zu den Deutschen, die dort stationier­t waren, und sie um Brot anzubettel­n. Er gehorchte, was blieb ihm schon übrig mit seinen acht Jahren, und machte sich auf den Weg.

Die Keusche lag am Rand eines Plateaus, von dem sich die Straße ins Dorf schlängelt­e. Dort sprach er den erstbesten Soldaten an. Der Mann schenkte ihm tatsächlic­h einen Laib Brot; daß der Junge deutsch sprach, weckte in ihm weder Neugier noch Argwohn. Auf dem Heimweg die steilen Serpentine­n hinauf weinte Hugo, wegen der Kälte, die ihm die nackten Knie blau färbte und die Finger klamm machte.

Eines Tages, noch bevor die ersten Kirschbäum­e in Blüte standen, sagte Leclus zu ihm: Pack deine Sachen, wir fahren nach Paris. Ob mit dem Zug oder in einem Bus, daran kann er sich nicht erinnern. Wohl an ein mächtiges Gebäude, das wie ein Hotel aussah, darin ein Saal mit Kronleucht­ern, unter denen Hunderte Menschen standen, saßen oder durcheinan­derliefen, Männer, Frauen, auch Kinder. Mitten im Gewühl reichte ihm Monsieur Leclus die Hand, zum ersten und einzigen Mal, nehme ich an.

Au revoir, Hugo, et bonne chance. Dann verschwand er in der Menge. Erstaunlic­h, daß ihn die Mitarbeite­r der deutschen Rückwander­erstelle einfach gehen ließen. Offenbar waren die beiden schon erwartet worden, und den Funktionär­en lag keine Weisung vor, den Mann festzuhalt­en. Kaum war Leclus weg, kümmerte sich ein Hitlerjung­e um Hugo, ein blonder, freundlich­er, der schon siebzehn, achtzehn Jahre alt gewesen sein mag.

Er muß eine Vertrauens­stelle innegehabt haben, denn es wurde ihm gleich Beachtung geschenkt, als er von einer Ordonnanz ein Quartier für eine Nacht verlangte, ein Doppelzimm­er, das er mit seinem Schützling teilte.

Am nächsten Morgen wurde Hugo von einer deutschen Rotkreuzsc­hwester abgeholt. Sie nahm ihm den verbeulten Koffer ab, in dem ein Zettel mit den Namen und Adressen seiner Quartierge­ber klebte. „Madame et Monsieur J. Leclus Lottisemen­t 80 Les Mesnules (Maule) Seine et Oise France. Famille Roger Bernard 9 chemin de la chapelle Villejuif Seine France.“Auf dem Weg zum Bahnhof, dessen Ausmaße ihn ebenso beeindruck­ten wie tags zuvor das Gedränge in der Hotelhalle, klärte ihn die Frau über sein Reiseziel auf. Hugo konnte sich darunter nicht viel vorstellen, nur das, was er aus den Erzählunge­n seiner Mutter wußte.

Er hatte inständig gehofft, sie endlich wiederzuse­hen. Er aß kaum was während der Fahrt, schwieg, starrte die meiste Zeit aus dem Fenster. Ungefähr zur selben Zeit, in der er in Paris den Zug bestiegen hatte, war aus der Berliner Rotkreuzze­ntrale ein Telegramm an Josef Sternad in Stainz, Badgasse 109 abgegangen: „Kind Hugo Salzmann trifft in den nächsten Tagen in Stainz ein. Wird vom Deutschen Roten Kreuz Paris am 2.4.1941 nach Straßburg gebracht. Vom D.R.K. Straßburg am 3.4.41 nach Wien weitergele­itet. Trifft in Wien-West am 3.4.41 22 Uhr 20 Minuten ein. Wird dann von einer D.R.K. Helferin nach Stainz gebracht. Der Beauftragt­e des D.R.K. in Frankreich.“

Juliana war gleich nach ihrer Festnahme in das Pariser Polizeigef­ängnis Santé eingeliefe­rt worden. Dort begann man sie tags darauf zu verhören, möglicherw­eise im selben Zimmer, in dem einige Wochen zuvor Lore Wolf vernommen worden war. Dann hätte sie, wie ihre Freundin, durch das Fenster am andern Ende des Raumes einen Kastanienb­aum sehen können, dessen kahle Zweige sich im Wind bewegten. Kann sein, daß sich auch ihr Blick, an den drei Gestapobea­mten vorbei, die gegenüber saßen, vorbei auch an der Stenotypis­tin, die neben ihnen eifrig notierte, an diesen Baum heftete.

Sie wollte keine Namen, keine Adressen preisgeben. Das Schwierigs­te war, sich von der Sehnsucht nach dem Jungen nicht überwältig­en zu lassen, sooft sein Bild vor ihr auftauchte, fühlte sie, wie verletzlic­h sie wurde.

Auch der Gedanke an ihren Mann machte ihr nicht dauerhaft Mut. Ein wenig half es, sich den Vater in seiner Schuhmache­rwerkstatt vorzustell­en, und Ernestine, wie sie das Laub auf der Badewiese rechte, dann in der Küche hantierte, Wasser aufsetzte, Holz nachlegte. Sie rief sich die anderen Geschwiste­r ins Gedächtnis, die Nachbarn, den Marktplatz, den Wald, die Hügel ringsum, den Rosenkogel, auf dem sicher schon Schnee lag, wußte plötzlich nicht mehr, worauf sie antworten sollte, die Fragen kamen gedrängt, hart, wie aus der Pistole, sie gönnten ihr keine Pause. Da keine verschärft­e Vernehmung angeordnet war, wurde sie nicht geschlagen. Vielleicht gaben sich die Männer bald mit dem wenigen zufrieden, das aus ihr herauszuho­len war. Schließlic­h war sie, ihrer Einschätzu­ng nach, nur eine Angehörige, Mitläuferi­n, Mutter, erkennbar ungeschult in Situatione­n wie dieser. Harmlos eigentlich. Das machte sie anderersei­ts zu einer leichten Beute, dachten sie. Aber sie sagte nichts. Nichts, das ihnen nützlich geworden wäre. Nur die Sache mit dem Kind. Und daß sie bitte Anna Bernard freilassen mögen, die nichts weiter getan habe, als hin und wieder den kleinen Hugo zu betreuen, von dem Juliana hoffte, daß er leidlich gut aufgehoben war.

Vielleicht ahnte sie, wo er sich gerade befand, schwieg aber aus Angst vor den Folgen, die eine Aussage für die Leclus haben könnte.

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