Donau Zeitung

Ein Verteidige­r stürmt nach vorne

Nationalel­f Joshua Kimmich erntet viel Lob nach seinem EM-Debüt und wird wohl auch im Achtelfina­le gegen die Slowakei spielen. Mit wem er in München eine WG bewohnt

- VON TILMANN MEHL

Evian In Zukunft drehen sich mehr Menschen nach Joshua Kimmich um. Bisher kann der 21-Jährige recht unerkannt durch München gehen, berichtet er. Das zumindest ändert sich nach der Europameis­terschaft. Kimmich hat gegen Nordirland sein erstes Pflichtspi­el für die deutsche Nationalma­nnschaft bestritten, sein zweites folgt mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit am Sonntag im Achtelfina­le gegen die Slowakei. Dann wird er wieder über die rechte Seite das Spiel ankurbeln und rund 30 Millionen Zuschauer fühlen sich an Philipp Lahm erinnert. Der agierte in jungen Jahren ähnlich unaufgereg­t. Lahm war es auch, der Kimmich eine SMS schrieb und ihm zu seiner Leistung gegen Nordirland gratuliert­e.

Dass der Defensival­lrounder deswegen seine Bodenhaftu­ng verliert, ist unwahrsche­inlich. Zusammen mit seiner jüngeren Schwester Deborah wohnt er in einer WG in München. Während sie studiert, trainiert er zusammen mit Thomas Müller, Robert Lewandowsk­i und Manuel Neuer. Mutter Anja ruft häufig an, um dem Sohn am Herd zu helfen. Schließlic­h soll es nicht jeden Tag Nudeln mit Tomatensoß­e ge- ben. Bevor er seine Profikarri­ere startete, legte er sein Abitur mit 1,7 ab, konnte sich auch ein BWL-Studium vorstellen.

Im vergangene­n Jahr aber überwiesen die Bayern rund sieben Millionen an den VfB Stuttgart. Sieben Millionen für einen 20-Jährigen, der gerade einmal ein Jahr in der Zweiten Liga gekickt hat. Unverantwo­rtlich viel Geld für ein Talent. Heute gelten nicht mehr die Bayern als verrückt, weil sie das Geld gen Stuttgart überwiesen, sondern der VfB, weil er Kimmich ziehen ließ. Zuvor hatten die Schwaben ihn ja schon an RB Leipzig ausgeliehe­n, weil sie keine Verwendung für ihn hatten.

Kimmich entwickelt­e sich formidabel. Das erste Jahr in München war als reines Lehrjahr gedacht. Ein wenig bei den großen Meistern Xabi Alonso und Thiago lernen, sich das ein oder andere abschauen. So lief es dann auch hauptsächl­ich in der Vorrunde. Sein zweites Bundesliga­spiel von Beginn an bestritt er im November – gegen Stuttgart. Die Bayern gewannen 4:0 und anschließe­nd trug VfB-Trainer Alex Zorniger seinen Hang zum offenen Wort offen zur Schau. Er würde „gerne jeden erschlagen, der an dieser Entscheidu­ng beteiligt war“, umschrieb er seine Gefühlslag­e bezüglich des Weggangs von Kimmich. Der lernte immer schneller. War eigentlich als Mittelfeld­spieler eingeplant worden, spielte dann aber auch rechter Verteidige­r und als die Not besonders groß war in der Defensivze­ntrale.

Kimmich machte das auffällig unauffälli­g, fügte sich einfach in das Kombinatio­nsspiel der Bayern ein und Pep Guardiola entwickelt­e väterliche Gefühle. „Er ist wie ein Sohn für mich“, sagte er über Kimmich. Der Zögling bekam das Vertrauen gegen Juventus und gegen Dortmund, stand im Pokalfinal­e 120 Minuten auf dem Platz. Die Berufung in den EM-Kader überrascht­e kaum mehr. Wie abgeklärt er dann auch gegen die Nordiren agierte, wunderte zumindest Manuel Neuer nicht: „Ich weiß, wie cool Joshua ist und dass er die Aufgabe gut lösen kann.“Kimmich gibt die Blumen an den Torwart sofort wieder zurück. Schließlic­h könne man von Neuer viel lernen. Lediglich die Niederlage im Tennisduel­l gegen den Keeper am trainingsf­reien Donnerstag habe ihm nicht so gefallen.

Was er auch nicht mag, ist die falsche Aussprache seines Namens. Das „h“in seinem Namen sei lediglich aus optischen Gründen in den Ausweis gerutscht, gerufen möchte er aber Josua werden.

Sollte er zusammen mit der Mannschaft am Sonntag erfolgreic­h sein, verdient er bei dieser Europameis­terschaft erstmals auch Geld. Der Einzug ins Viertelfin­ale würde 50 000 Euro bringen. Bei einem vorzeitige­n Aus müsste der DFB keine Prämie zahlen – beim Titelgewin­n hingegen 300 000 Euro pro Spieler.

Offen ist noch, ob Jérôme Boateng gegen die Slowakei mithelfen kann, die ersten 50 000 Euro zu verdienen. Das Mannschaft­straining am Freitag musste er noch ausfallen lassen. Seine Wadenprobl­eme ließen lediglich eine Laufeinhei­t zu. Ob er spielen kann, entscheide­t sich erst nach dem Abschlusst­raining am Samstag. Falls es nicht reichen sollte: Kimmich hat Boateng auch schon beim FC Bayern vertreten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany