Die Angst geht um
Geschichte Warum noch immer viele an die düsteren Weissagungen des französischen Arztes und Astrologen Nostradamus glauben
Salon-de-Provence Angeblich hat er Hitlers Machtergreifung vorausgesagt. Und ebenso den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001. Ob die rund 1000 vierzeiligen Verse des weltberühmten Astrologen Nostradamus tatsächlich Zukunftsprognosen bis ins Jahr 3797 enthalten, ist nach Ansicht von Experten indes mehr als fraglich. Vor 450 Jahren, am 2. Juli 1566, starb der französische Arzt Michel de Nostredame in Salon de Provence. Wer war er?
Als „interessanten, klugen, aber nicht in sich gefestigten Mann“beschreibt Nostradamus-Experte Bernd Harder von der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) den Universalgelehrten. „Er hatte einen Hang zum Pessimismus.“Nostradamus studierte in Avignon humanistische Wissenschaften und ab 1525 Medizin in Montpellier. Zeitweilig war er Leibarzt Karls IX. und erwarb sich im erfolgreichen Kampf gegen die Pest allgemeine Anerkennung. Außerdem galt er als bevorzugter Berater König Heinrichs II. und dessen Frau Katharina von Medici.
Astrologische Berühmtheit erlangte der Gelehrte 1555, als er den Tod Heinrich II. weissagte: „Der junge Löwe wird den alten überwinden / Auf kriegerischem Felde durch Einzel-Zweikampf: / In Goldenem Käfig wird er ihm die Augen ausstechen, / Von zwei Brüchen der erste, dann sterben eines grausigen Todes.“
Vier Jahre später, am 1. Juli 1559, schien sich die Prophezeiung tatsächlich zu erfüllen: Bei einem Wettstreit zwischen Heinrich II. und dem Grafen Montgomery durchdrang die Lanze das Visier des Königs, durchstach sein Auge und tötete ihn.
Hauptproblem bei dieser und allen anderen Weissagungen des Franzosen: Die Prophezeiungen können immer erst im Nachhinein erklärt werden. „Und dann werden sie beliebig mit Sinn aufgeladen“, so Harder. „Da sie offen und vage formuliert sind, ist es schwierig, sie zu widerlegen.“Warnen konnten die sogenannten Centurien bisher vor keiner Katastrophe – nicht vor dem amerikanischen Bürgerkrieg, nicht vor der Atombombe auf Hiroshima und nicht vor dem Attentat auf den US-Präsidenten John F. Kennedy.
All diese Ereignisse wurden Nostradamus erst als Weissagungen in den Mund gelegt, als es bereits zu spät war.
Die für Juli 1999 angekündigte Prophezeiung „ein großer König des Schreckens“fahre vom Himmel herab, galt etwa zuerst als nahende Apokalypse. Später – als die Welt nicht untergegangen war – wurde sie als bildhafte Umschreibung der Sonnenfinsternis erklärt.
Warum trotz dieser Widersprüche viele Menschen geneigt sind, an die Prophezeiungen zu glauben, hat nach Ansicht des Experten unterschiedliche Gründe: Dazu gehört die Lust am Rätselraten genauso wie die Faszination, Geheimwissen in den Händen zu halten. Für viele Nostradamus-Anhänger hat der Glaube an einen Fahrplan für das Weltgeschehen auch eine psychologisch-beruhigende Wirkung.
Der Astrologe selbst hat übrigens nie behauptet, hellseherische Kräfte zu besitzen – auch wenn er nach eigenem Bekunden durch göttliche Offenbarungen zu seinen Versen kam. Harder wertet die Zeilen des Nostradamus als Spiegelbild des 16. Jahrhunderts: Bauernaufstände, Reformation, die erste Weltumseglung sowie die Pest und andere Seuchen verunsicherten die Zeitgenossen. Nostradamus’ Centurien sollten seinen eigenen apokalyptischen Ängsten Ausdruck verleihen.
Bei so viel Deutungsfreiheit ist es nicht verwunderlich, dass manche Auslegungen der Nostradamus-Anhänger unfreiwillig komisch wirken. So soll folgender Vers der VI. Centurie den Sturz von Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl vorausgesagt haben: „Um den großen Durst zu löschen, wird der Große aus Mainz seinen Ämtern enthoben. Die von Köln werden sich so laut beklagen, dass der große Hintern in den Rhein gestürzt wird.“
Auch dass die Erde sich im Jahr 2016 immer noch weiterdrehen wird, sei laut einschlägigen Wahrsagerportalen nicht unbedingt zu erwarten gewesen, erklärt Bernd Harder. Frei nach Nostradamus ging man in den Vorhersagen für das Jahr 2015 nämlich davon aus, dass der dritte Weltkrieg beginnen werde, mindestens aber „eine elfjährige Periode der Wasserverseuchung“– und wenn nicht das, dann tauche ganz bestimmt ein „sehr unbeliebter Religionsführer“auf.
Nina Schmedding, kna
„Um den großen Durst zu löschen, wird der Große aus Mainz seinen Ämtern enthoben.“
Nostradamus-Vers, der den Sturz von Altkanzler Helmut Kohl vorhersagen sollte