Donau Zeitung

Venedig darf nicht sterben

Italien Kaum noch 55 000 Menschen leben in der Lagunensta­dt. Und es werden immer weniger. Die Zahl der Touristen aber, die die Stadt jeden Tag überrennen, steigt und steigt. Eine Gruppe junger Aktivisten will das nicht länger hinnehmen – und greift dafür

- VON JULIUS MÜLLER MEININGEN

Venedig Optimisten, das muss man ganz offen sagen, sehen anders aus. Giovanni Di Giorgio ist 22 Jahre alt und gelernter Geiger. Er hat das Leben vor sich, liebt die Musik. Aber wenn er in seiner Heimatstad­t unterwegs ist, dann spürt er vor allem ein Gefühl der Leere. Di Giorgio kann dieses Gefühl auch nicht exakt erklären, es hat mit der anonymen Masse auf den Gassen zu tun, den Leuten, die meist nur für ein paar Stunden durch Venedig streifen wie auf einem Raubzug, dessen Beute morbide Schönheit ist.

„Ich fühle mich von meiner eigenen Stadt abgewiesen“, sagt er. Di Giorgio träumt von einem leeren, verlassene­n Venedig. Auf den Markusplat­z, das von etwa 30 Millionen Touristen im Jahr besuchte Wahrzeiche­n der Stadt, wagt er sich nur im Dunkeln. „Wenn alle Bars geschlosse­n sind und die Stühle auf den Tischen stehen“, erzählt er. In diesem aufgeräumt­en und ans Trostlose grenzenden Zustand erträgt er seine Stadt dann wieder.

Di Giorgio steht auf einem dieser malerische­n, engen und wie eine Theaterbüh­ne wirkenden Plätze in Venedig, dem Campo San Bartolomeo gleich bei der Rialto-Brücke. Zu seiner Rechten das Schaufenst­er der Morelli-Apotheke, in der in diesen kalten Tagen für Naturprodu­kte zur Vorbeugung von Erkältunge­n geworben wird. Dabei hätte Venedig eine ganz andere Kur notwendig, wie man unschwer an der Digitalanz­eige ablesen kann, die unter der Bienenwach­s-Werbung steht.

Die kleine Anzeigetaf­el zeigt an diesem Tag „54 976“an. Immer dann, wenn sich wieder ein Venezianer abgemeldet hat oder wenn ein Einwohner stirbt, sinkt die Zahl. Und das tut sie unaufhörli­ch. Vor acht Jahren platzierte der Apotheker den Einwohner-Zähler in seinem Schaufenst­er, damals waren es noch über 60000 Venezianer. Die Morelli und ihr makabrer Countdown sind seither eine Anlaufstel­le für die Gewissheit des eigenen Endes der Venezianer. Di Giorgio steht neben dem Zähler und sieht so aus, als wisse er, dass auch seine Tage in Venedig gezählt sind.

Vor 60 Jahren lebten noch 150 000 Menschen in der historisch­en Altstadt, heute sind es weniger als 55 000. Die frühere Metropole, die immer mehr einem Freiluftmu­seum gleicht, bewegt sich damit in der Größenordn­ung von Städten wie Neu-Ulm.

„Manche Urlauber können es kaum glauben, wenn sie noch einem echten Venezianer begegnen“, erzählt Alvise Aranyossy, der neben seinem Freund Giovanni steht, beide umringt von Tauben und Touristen. Die Zahl der Gäste hat sich in den vergangene­n 25 Jahren vervierfac­ht. Aranyossy ist 23 Jahre alt, er studiert Umweltwiss­enschaften an der Universitä­t Ca’ Foscari und sagt: „Es ist schon fast wie in Disneyland hier, aber wir sind immer noch da.“

Es ist nicht neu, das Lied vom Untergang Venedigs. Aber inzwischen ist eine Generation von Venezianer­n herangewac­hsen, die sich ihrem Schicksal nicht mehr ergeben will. „Generazion­e 90“nennt sich die Gruppe, die in diesem Frühsommer aus Treffen von gleichaltr­igen Freunden entstanden ist. Auch Di Giorgio und Aranyossy gehören zum harten Kern von 13 Aktivisten. Sie alle sind sich sicher, dass ihre Generation die letzte ist, die noch ein authentisc­hes Venedig erlebt hat. Gerade einmal 9000 Jugendlich­e leben heute in Venedig.

Es ist nicht so, dass sich die jungen Leute einer Illusion hingegeben hätten. Sie sind immer wieder hin- und hergerisse­n zwischen Kapitulati­on und Weltverbes­serung. Aber der Alltag von Venedig verlangt nun einmal nach Veränderun­g, darin ist sich die Gruppe einig. „Ein paar Farbtupfer im allgemeine­n Grau“, wünscht sich etwa Alvise Aranyossy und ist bereit, sich dafür einzusetze­n.

Das Grau ist die Gegenwart, in der sich bis zu 200 000 Menschen am Tag über eine der schönsten Städte der Welt ergießen, meist nur für einen Tagesausfl­ug. An Karneval regulieren Verkehrspo­lizisten den Verkehr, wohlgemerk­t den der Fußgänger. Die Mieten sind in astronomis­che Höhen geschossen, weil die Venezianer selbst lieber an Touristen vermieten, die bereit sind, für ihre Kurzaufent­halte viel Geld zu zahlen. Der größte Kampf von „Generazion­e 90“ist deshalb, ihre Mitbewohne­r davon zu überzeugen, dass es so nicht weitergehe­n kann. Denn während viele Venezianer über die Touristenm­assen stöhnen, kommt der Ansturm denjenigen, die ihre Geschäfte mit den Fremden machen, sehr gelegen.

Ist ein Laden zu vermieten, kann man sicher sein, dass als Nächstes entweder ein Souvenirge­schäft, eine Boutique oder eine Pizzeria einzieFarm­acia hen wird. Wer Arbeit sucht, und zwar nicht im Tourismus, muss sich fast zwangsläuf­ig ans Festland begeben. Junge Venezianer, die ihre Träume verwirklic­hen wollen, haben hier keine Perspektiv­e.

Einen Farbtupfer gab es im September, als Di Giorgio und Aranyossy mit „Generazion­e 90“eine witzige Aktion organisier­ten, die die Gruppe italienwei­t bekannt machte. Mit zweirädrig­en Einkaufstr­olleys liefen die Aktivisten in der Gruppe zum Rialto-Markt, um auf den schwierige­n Alltag der Venezianer aufmerksam zu machen. Plötzlich waren es 1200 Menschen, die demonstrie­ren. Diesmal blockierte­n nicht die Touristen die Wege der Einheimisc­hen, sondern die Venezianer blockierte­n die Touristen. Sie holten sich ihr Venedig für ein paar Stunden zurück.

Die Aktion hat ihnen Aufschwung gegeben, die Venezianer, ältere und jüngere, rechte und linke, fühlten sich in ihrem Aufbegehre­n vereint. Vor wenigen Wochen startete eine andere Bürgerinit­iative, die auch die Idee mit dem Einwohnerz­ähler hatte, eine ähnliche Aktion unter dem Namen „Venexodus“. Mehr als 500 Venezianer versammelt­en sich mit Koffern und Umzugskist­en vor dem Rathaus, um ihren Exodus aus der Stadt zu simulieren. Auch „Generazion­e 90“war dabei. Den Eindruck, die Bewohner seien gegen den Tourismus, weist Alvise Aranyossy zurück: „Venedig lebt vom Tourismus, aber man kann auch an ihm zugrunde gehen.“

Es geht den jungen Venezianer­n darum, ein für die Stadt verträglic­hes Maß an Fremdenver­kehr zu finden. Di Giorgio, Aranyossy und die anderen von „Generazion­e 90“fordern ein strengeres Reglement für die Vermietung von Ferienwohn­ungen und die Förderung des sozialen Wohnungsba­us. Sie wollen die Umwidmung von Gebäuden unterbinde­n, damit nicht noch mehr Hotels in der Stadt entstehen, deren Gäste den Rest authentisc­hen Lebens in der Stadt unterbinde­n. Gegen die Überfüllun­g des Markusplat­zes zu Hauptreise­zeiten soll eine Zugangsbes­chränkung helfen. „Wer an Weihnachte­n, im Karneval oder im August auf den Markusplat­z will, der muss bezahlen“, sagt Di Giorgio. 200 000 Menschen am Tag seien einfach zu viel.

Die Vorschläge sind nachvollzi­ehbar, einige auch gar nicht neu. Über eine Zugangsbes­chränkung zur Stadt wurde erstmals Mitte der 80er Jahre diskutiert, ohne Folgen. Auch die Drohung der Unesco, der Kulturorga­nisation der Vereinten Nationen, die Stadt auf die Liste der gefährdete­n Kulturgüte­r zu setzen, blieb bislang ohne Konsequenz­en. Warum also akzeptiert die Stadt ihre eigene Verwandlun­g in eine zwar belebte, aber in Wahrheit immer leblosere Kulisse?

Eine der Antworten auf diese Frage bekäme man wohl im Palazzo Ca’ Farsetti, dem Rathaus Venedigs. Bürgermeis­ter Luigi Brugnaro, der 2015 mit Unterstütz­ung der Partei Silvio Berlusconi­s ins Rathaus gewählt wurde, gibt keine Interviews. Aber er hat seine Meinung schon mehrfach kundgetan. „Die Zukunft der Gemeinde ist nicht Venedig, sondern Mestre, da, wo die meisten Leute leben“, sagte der Bürgermeis­ter vor ein paar Monaten. Der Stadtteil, der auf dem Festland liegt, wird bald doppelt so viele Einwohner zählen wie die Lagunensta­dt.

Zwölf bis 15 Millionen Touristen pro Jahr wären eine verträglic­he Zahl für Venedig, das geht aus einer Studie hervor. Derzeit sind es doppelt so viele. „Welcher Bürgermeis­ter könnte den Venezianer­n vorschlage­n, die Zahl der Touristen zu halbieren?“, fragt der venezianis­che Journalist Silvio Testa. „Das wäre der Bankrott der Stadt. Die Familien leben vom Tourismus“, sagt er.

„Es ist schon fast wie in Disneyland hier, aber wir sind immer noch da.“

Alvise Aranyossy „Venedig lebt vom Touris mus, aber man kann auch an ihm zugrunde gehen.“

Alvise Aranyossy

Mit anderen Worten: die Venezianer wollen es nicht anders.

Dazu kommen enorme wirtschaft­liche Interessen, etwa der Hoteliers, der Wassertaxi­fahrer oder der Schifffahr­tsgesellsc­haften, die der Stadt hohe Landungsge­bühren zahlen und dazu beitragen, dass es Di Giorgio und Aranyossy manchmal so vorkommt, als fielen die Touristen wie Heuschreck­en über die Stadt her, um ebenso rasch wieder zu verschwind­en.

„Generazion­e 90“will unparteiis­ch bleiben, sich mit niemandem anlegen. Auf Dauer wird das kaum möglich sein. Denn die Interessen, dass alles beim Alten bleibt in Venedig, sind groß. Venedig ist nicht nur eine verletzlic­he Stadt, sondern auch ein großes Business, das wissen die jungen Aktivisten. Und sie wissen, dass viele Venezianer das Geschäft mit ihrer Stadt, das so gut läuft, nur ungern gegen ein nachhaltig­es Wirtschaft­en eintausche­n würden. Wobei von vielen Venezianer­n eigentlich gar nicht mehr die Rede sein kann.

 ?? Foto: Awakening, Getty Images ?? Die Proteste gegen die Touristenm­assen, sie sind mittlerwei­le allgegenwä­rtig in Venedig.
Foto: Awakening, Getty Images Die Proteste gegen die Touristenm­assen, sie sind mittlerwei­le allgegenwä­rtig in Venedig.

Newspapers in German

Newspapers from Germany